PAGES: Projekt Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene im Sozialraum

PAGES: Projekt Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene im Sozialraum

von Sarah Buschfeld und Christiane Schöneberger • Artikel im ZMI Magazin 2010, S. 12

„In unserem Dorf gab es keine Schule.“, „Meine Lehrer sagten: „Das lernst Du sowieso nie!’“ – so oder ähnlich antworten Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Alphabetisierungskursen der Volkshochschule Köln auf die Frage, warum sie die deutsche Sprache nicht oder nicht hinreichend lesen und schreiben können. Rund 47.000 Menschen leben in Köln, die über nur unzureichende Schriftsprachkenntnisse verfügen – und dadurch von gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind.
Von Januar 2008 bis November 2010 bot die Kölner VHS daher im Rahmen des Verbundprojekts PAGES kostenlose Alphabetisierungskurse für Erwachsene in den Kölner Sozialräumen Meschenich/Rondorf, Ostheim und Chorweiler an. Das Kursangebot vor Ort hat vor allem geholfen, einige der Barrieren für die Kursteilnahme (Fahrtwege, Verlassen des gewohnten Lebensumfelds) von vornherein abzubauen und so den Zugang zu Grundbildungsangeboten zu erleichtern. Durch die Vernetzung mit in den Sozialräumen tätigen Einrichtungen wie ARGE oder Caritas, aber auch durch die Kooperation mit Schulen, Kitas oder Arztpraxen konnten die Kursangebote vielen Menschen bekanntgemacht werden; potenzielle Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden so direkt erreicht.
Die Kursarbeit wurde dabei von den Universitäten Köln und Siegen während der gesamten Projektlaufzeit wissenschaftlich unterstützt und begleitet. Die universitären Partner berieten die Dozentinnen und Dozenten bei der Ausarbeitung von Unterrichtsmethoden und Materialien, erprobten alternative Konzepte für die Alphabetisierungsarbeit und begleiteten über die gesamte Projektlaufzeit von drei Jahren die Schriftsprachentwicklung der Teilnehmenden. Koordiniert wurde das Verbundprojekt von der Lernenden Region Netzwerk Köln.
Die Alphabetisierungsangebote richteten sich sowohl an Lernende mit Deutsch als Muttersprache als auch an Lernende mit Deutsch als Zweitsprache. Die Lernvoraussetzungen für diese beiden Teilnehmergruppen sind jedoch immer durch sehr unterschiedliche sprachliche Hintergründe gekennzeichnet: Viele Teilnehmende deutscher Muttersprache müssen das Schriftsystem von Beginn an erwerben. Lernende von Deutsch als Zweitsprache hingegen verfügen zum Teil über grundlegende oder fortgeschrittene Schriftsprachkenntnisse in ihrer Muttersprache, die ihnen beim Erwerb der deutschen Schriftsprache hilfreich sein können, aber auch zu Transferfehlern führen können.
Für diese spezielle Zielgruppe ist es daher hilfreich, wenn auch die Lehrenden Grundkenntnisse über die Herkunftssprachen haben und strukturelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausgangssprachen und der Zielsprache Deutsch kennen. Um diese Idee der kontrastiven Alphabetisierung in die Praxis umzusetzen, bot das Teilprojekt Literacy entwickeln Fortbildungen für VHS-DozentInnen an und entwickelte kontrastive Lehr- und Lernmaterialien für den Einsatz in sprachlich heterogenen Lerngruppen. Auch für den Alphabetisierungsunterricht mit muttersprachlichen Lernerinnen und Lernern des Deutschen wurden Fortbildungsangebote zu Methoden und Grundlagen des Schriftspracherwerbs geschaffen.
Für beide Zielgruppen verfolgten die Projektkurse einen ganzheitlichen Literacy-Ansatz:
Über die reine Lese- und Schreibfähigkeit hinaus sollten die Teilnehmenden auch zu einem kompetenten Umgang mit Schriftsprache befähigt werden, d. h. zu alltagsbezogenem und funktionalem Gebrauch von Schriftsprache, der vom Verfassen eines Einkaufszettels bis zum Lesen und Verstehen von Elternbriefen, Fahrplänen und Beipackzetteln reichen kann.
Um die vorhandene Kompetenz in Sprach- und Schriftsprachbeherrschung bereits von Beginn des Lernprozesses an einschätzen zu können, wurde in enger Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen und VHS-DozentInnen ein langzeitiges und adaptives Diagnoseinstrument entwickelt: AdISLA – Adaptives Instrument zur Schriftsprachdiagnostik von Lernenden in Alphabetisierungskursen. Das Instrument steht den Lehrenden auch nach Ende der Projektlaufzeit zur Verfügung. Es wird erstmalig zur Einstufung bei Kursbeginn eingesetzt und erhebt die Entwicklungsstände der Teilnehmenden in
den Bereichen Sprachproduktion und Sprachverständnis. Im weiteren Verlauf des Lernprozesses wird das Instrument wiederholt flexibel eingesetzt, um die individuelle Entwicklung der Teilnehmenden zu dokumentieren. Schließlich lassen sich aus den Ergebnissen auch Implikationen für die unterrichtliche Praxis ableiten. Das Diagnoseinstrument ist als Teil eines umfassenden Portfolios angelegt, in dem die Entwicklungsstände und Schreibprodukte der Teilnehmenden gesammelt werden können, so dass ein langzeitiger Überblick über ihre Entwicklung und ihre Kompetenzzuwächse entsteht. Mit Hilfe des Portfolios lassen sich auch Lernziele formulieren und Lernetappen definieren.
Das Verbundprojekt wurde im Rahmen der Alphabetisierungsdekade der UNESCO für drei Jahre finanziell vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt.