Kompetenzen kompetent fördern! Prinzipien eines guten Starts in sprachliche Bildung

Kompetenzen kompetent fördern! Prinzipien eines guten Starts in sprachliche Bildung

von Prof. Dr. Rosemarie Tracy  • Artikel im ZMI Magazin 2012, S. 6

Die Fähigkeit, Sprache(n) zu erwerben, ist dem Menschen angeboren. Sie ist unabhängig von der Intelligenz und kulturell bedingten Erziehungsstilen. Das Gehirn des Menschen ist bestens darauf vorbereitet, auf allen Ebenen der Sprache beiläufig – also ohne bewusste Auseinandersetzung – Muster zu entdecken und Regeln zu bilden. Rhythmus und Sprechmelodie der Sprache der Mutter werden sogar schon vorgeburtlich wahrgenommen. Typischerweise entdecken alle normal entwickelten Kinder bis zum Alter von drei bis vier Jahren die wichtigsten strukturellen Grundlagen ihrer jeweiligen Erstsprachen. Kinder können auch problemlos einen „doppelten“ Erstspracherwerb durchlaufen, z.B. , wenn Mutter und Vater unterschiedliche Sprachen sprechen. Oder sie wachsen dreisprachig auf, z.B., wenn zu den beiden von Vater und Mutter gesprochenen Sprachen noch eine weitere Umgebungssprache hinzukommt oder wenn Vater und Mutter miteinander in einer dritten Sprache kommunizieren.

Kinder, die mit zwei Erstsprachen aufwachsen, müssen im Vergleich mit monolingualen Kindern keineswegs langsamer sein. Sie haben sogar den Vorteil, dass ihnen sehr früh bewusst wird, dass man einen Gegenstand oder ein Ereignis unterschiedlich bezeichnen kann, also das etwas, das auf Deutsch „Blume“ heißt, auf Englisch als „flower“, auf Französisch als „fleur“ bezeichnet wird. Mehrsprachige Kinder machen sich auch früh Gedanken darüber, wer wohl warum welche Sprache spricht, d.h., sie fragen sich beispielweise, ob alle Väter Italienisch sprechen oder nur Frauen Englisch. Kinder mit zwei (oder mehr) Erstsprachen können ihre Sprachen früh trennen, auch wenn sie dabei oft eine mehr oder weniger intensive Phase des „Mischens“ durchlaufen können, die Eltern und Fachkräfte nicht beunruhigen sollte.
Die Forschung zum frühen Zweitspracherwerb hat gezeigt, dass sich Kinder unterschiedlichster Erstsprachen, die im Alter von drei bis vier Jahren zum ersten Mal mit der deutschen Sprache konfrontiert werden, in fünf bis zehn Monaten Grundstrukturen der deutschen Grammatik erschließen können. Sie durchlaufen dabei im Wesentlichen die Phasen, die wir auch vom Erwerb des Deutschen als Erstsprache kennen. Es gibt also viele gute Gründe, um möglichst früh in die Förderung des Zweitspracherwerbs einzusteigen.
Die folgenden Grundprinzipien bieten eine Orientierungshilfe für den Umgang mit Kindern, die ohne Deutschkenntnisse in Tageseinrichtungen kommen. Letztlich profitieren aber alle Kinder von einer neuen Qualität intensiver sprachlicher Interaktion, die durch die Umsetzung dieser Empfehlungen erzielt wird.

Sprachbad
Gute Voraussetzung für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb in der frühen Kindheit ist ein kontinuierliches, intensives Sprachangebot, idealerweise ein „Sprachbad“, womit ein (sanftes) Eintauchen in eine neue sprachliche Umgebung gemeint ist. Für eine Optimierung des sprachlichen Angebots bedarf es dabei seitens der ErzieherInnen/der Förderkräfte der Zeit für eine von anderen Dringlichkeiten unbelastete Kommunikation. Um sicherzustellen, dass ein einzelnes Kind relevanten Input ungehindert aufnehmen kann, müssen daher regelmäßig und verlässlich kommunikative Situationen geschaffen werden, in denen sich Erwachsene und Kinder ungestört, d.h. in möglichst kleinen Gruppen, auf gemeinsame Spiele, Gegenstände und Ereignisse konzentrieren können. Der Vorteil der kleinen Gruppe (idealerweise nicht mehr als vier Kinder) liegt darin, dass man einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herstellen und allen Kindern zuhören und Raum zum Sprechen eröffnen kann. Wichtig ist auch, dass Kinder sehen können, womit sich eine Erzieherin gerade beschäftigt, während sie etwas sagt. Auch ein Kind, das anfangs kaum etwas versteht, kann so anhand dessen, was man beim Sprechen gerade tut (z.B. Kuchen backen, Auto waschen) raten, was eine Äußerung wohl bedeuten könnte. Erwachsene müssen ebenfalls bei dem Versuch, Kinderäußerungen zu verstehen, den jeweiligen Kontext zu Rate ziehen , d.h., sie müssen sehen können, womit sich ein Kind beim Sprechen beschäftigt und wohin es schaut. Schließlich kann man auch nur dann von individueller Sprachförderung sprechen, wenn dialogische Interaktion möglich ist.

Früher Förderbeginn: ein Vorteil für alle
Je jünger Kinder sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch beim Zweitspracherwerb noch auf die Mechanismen und Fähigkeiten zugreifen können, die den Erstspracherwerb so robust und erfolgreich machen. Dazu brauchen sie vor allem das bereits genannte intensive Sprachangebot in alltagsrelevanten, altersgemäßen und interessanten Kontexten.
Je jünger die Kinder zu Beginn des Zweitspracherwerbs sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bereits auf Grund fehlender Sprachkenntnisse von ihrer Umgebung negativ beurteilt wurden und von daher (begründete) Ängste entwickeln, sich auf Deutsch zu äußern. Sprache ist eng mit dem Selbstwertgefühl und der Wahrnehmung der eigenen Identität verbunden. Daher wird die Geringschätzung durch andere aufgrund mangelnder sprachlicher Ausdrucksfähigkeiten bereits von kleinen Kindern als kränkend und demotivierend empfunden. Eine frühe Erwerbsgelegenheit umgeht diese Probleme.
Ein möglichst früher Förderbeginn ist auch gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich die langfristig kostengünstigste Lösung, weil auf diese Weise präventiv viele Probleme und Spätfolgen vermieden werden können. Hinzu kommt, dass Kinder bei frühzeitigem Förderbeginn mehr Zeit haben, bis zum Eintritt in die Schule sprachlich möglichst viel aufzuholen. Schließlich hat der zeitige Beginn noch den Vorteil, dass man etwaige Entwicklungsstörungen früh erkennen kann. Zeigt ein Kind trotz verfügbarem Sprachangebot nach vier bis sechs Monaten keine oder kaum Fortschritte, so könnte auch eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) vorliegen. Bei rechtzeitiger Sensibilisierung für denkbare Störungsbilder, können Fachkräfte dann auf eine rasche logopädische Abklärung hinwirken. Sollte eine SSES vorliegen, so betrifft sie übrigens immer alle Sprachen eines Kindes, also auch die Erstsprache.

Sprachförderung vom ersten Tag aus ganz praktischen Erwägungen heraus
Da mit dem Eintritt in eine Tageseinrichtung für Kinder ohnehin eine völlig neue Lebenswelt beginnt, kann man die Sprachförderung von Anfang an als Teil eines rundum neuen Alltags etablieren, auf den sich alle (inkl. der Eltern, die dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder anwesend sind) einstellen können. Die Kopplung von Förderbeginn und Kita-Eintritt funktioniert besser als der nachträgliche Versuch, Fördermaßnahmen zu integrieren.

Natürliches Interesse und kommunikative Bedürfnisse von Kindern nutzen
Der Alltag im Kindergarten und die Objekte, Ereignisse und Themen der neuen Umgebung diktieren auf natürliche Weise den Wortschatz und die Ausdrücke, die Lerner am schnellsten verstehen sollten. Das Kommunikations- und damit zugleich Förderangebot kann sich thematisch problemlos an diesem natürlichen Bedarf der Kinder und an dem ganz normalen Alltagsgeschehen in den Einrichtungen ausrichten.
Kinder erweisen sich früh als kreative und aktive Kommunikationspartner, deren natürliche Kompetenzen durch eine anregende Umgebung herausgefordert werden sollten. Dies geschieht nicht durch vorgezogenen Unterricht, sondern durch Nutzung der natürlichen Wissbegierigkeit des Kindes und seiner Bestrebung, seine Umwelt zu verstehen.

Kindliche Sprachexpertise nutzen
Alle Kinder sind bereits früh Sprachexpertinnen und -experten, und diese Expertise kann man sich zu Nutze machen. Zwei- bis dreijährige Kinder wissen, wie Sprache „funktioniert“ und können dieses Wissen einsetzen, um die Bedeutung von Äußerungen, die sie anfangs nicht verstehen, im Kontext zu erraten. Daher ist es wichtig, dass Erwachsene ihre eigenen Äußerungen handlungsbegleitend einsetzen und aktuelles Geschehen kommentieren (z.B. „Setzt Euch bitte mal alle hin, ich setze mich hier auf den Stuhl. Markus kann sich neben mich setzen. Wie wär’s, wenn sich Emma neben Ayse setzt?“ etc.).

Deutsch als lingua franca taktvoll stärken, alle Sprachen willkommen heißen
Wir wissen von Kindern, die mit zwei Erstsprachen aufwachsen, dass sie sich früh Gedanken darüber machen, wer warum welche Sprache spricht. Auch Kinder, die erst in den Tageseinrichtungen mit dem Deutschen in Kontakt kommen, werden kein Problem damit haben, Deutsch als gemeinsame Verkehrssprache der Tageseinrichtungen zu akzeptieren. Gerade für multilinguale Kindertagesstätten, in denen Kinder unterschiedlicher Erstsprachen sind, stehen die Chance, Deutsch zur lingua franca (Verkehrssprache) zu machen, sehr gut.
Das bedeutet nicht, dass man die Verwendung der Erstsprachen in den Kitas oder Schulen unterbinden sollte. Es genügt manchmal ein kurzer Hinweis darauf, dass man selbst leider die Erstsprache des Kindes (noch nicht) ausreichend beherrscht, während es selbst ja schon soviel besser Deutsch kann. Ideal ist es natürlich, wenn in den Einrichtungen/allen Gruppen auch Kinder mit Deutsch als Erstsprache sind, denn gerade im sprachlichen Bereich ist die Bereitschaft, sich an anderen Kindern zu orientieren, besonders groß. Wichtig ist es, Kindern (und Eltern!) zu verstehen zu geben, dass man ihre Fähigkeiten in ihren Muttersprachen zu schätzen weiß.

Kontrastreichen, komplexen Input anbieten und auf Korrekturen verzichten
Der Spracherwerb ist ein systematischer Prozess, der einer Eigendynamik unterliegt. Dazu bedarf es zwar der Anregung und der Herausforderung durch eine sprachliche Umgebung in Form guter Sprachvorbilder, nicht aber einer Unterweisung oder einer expliziten Korrektur. Kinder müssen in erster Linie differenziertem und abwechslungsreichem Input begegnen. Erzieherinnen und Erzieher sollten sich daher wie „normale“, authentische GesprächspartnerInnen verhalten, die sich gerne und respektvoll mit Kindern unterhalten.
Dabei ist explizite Korrektur (Das heißt nicht „geschwimmt“. Sag mal „geschwommen“!) nicht nur demotivierend, sondern sie ist überflüssig. Wichtig ist es hingegen, kindliche Äußerungen expandierend aufzugreifen und das Gespräch inhaltlich voranzubringen, vgl. dazu einige Beispiele:

Kind: Ich sehen Kuh.
Erwachsene(r): Eine Kuh siehst du? Wo denn? Ich sehe keine. Wo siehst du denn die Kuh?
Kind: Die Mädchen laufst.
Erwachsene(r): Das Mädchen läuft, meinst du? Das stimmt, es läuft.
Wohin läuft es denn? Kann man auf dem Bild erkennen, wohin es läuft?

Diese Beispiele illustrieren, wie man dem Inhalt einer kindlichen Äußerung zustimmen und Kindern zugleich eine formale Alternative anbieten kann. Man verhält sich damit letztlich nicht anders als gegenüber kleineren Kindern, bei denen man vielleicht beim ersten Hinhören akustisch nicht genau verstanden hat, was sie gesagt haben.
Wie früh sich Kinder bemühen, sich in Gesprächen kooperativ zu verhalten, zeigt folgende Episode. Hier formuliert das Kind seinen Satz um, als es merkt, dass seine Gesprächspartnerin zunächst nicht verstanden hat, was es sagen wollte.
Erwachsene(r): Wo ist denn der Papa?
Kind (etwa zwei Jahre alt): der sikt
Erwachsene(r): Der macht was?
Kind: der sikt, der macht Sik (sik = Musik)

Auf die Kooperationsbereitschaft der Eltern setzen
Die Eltern der geförderten Kinder sollten möglichst früh als Partner gewonnen werden, unter anderem, damit sie den Zweitspracherwerb ihrer Kinder nicht als Bedrohung der Erstsprachen empfinden. Ihnen muss glaubhaft vermittelt werden, dass die Mehrsprachigkeit ihrer Kinder nicht nur toleriert, sondern – ganz im Sinne der europäischen Sprachenpolitik – wonach jeder Bürger/jede Bürgerin drei Sprachen beherrschen sollte – aktiv gefördert wird und dauerhaft erwünscht ist.

Sprachförderung beginnt im Kopf der Förderkräfte
Voraussetzung für eine optimale Förderung ist die professionelle Expertise (theoretisches Wissen, Handlungsfähigkeit und kritische Reflexion) und eine damit einhergehende Einstellung pädagogischer Fachkräfte. Sprachförderung beginnt mit dem Wissen der Fördernden über die wichtigsten Merkmale der zu erwerbenden Sprache (der Zielsprache) und über die systematische und kreative Art und Weise, in der sich Kinder Sprache aneignen. Dieses Wissen bildet die Voraussetzung für ein Erkennen des Entwicklungsstands (z.B. unter Einsatz diagnostischer Verfahren) und eine gezielte und effektive Integration der Sprachförderung in den Kommunikationsalltag von Bildungseinrichtungen. Nur wer erkennen kann, welche Meilensteine des Spracherwerbs ein Kind bereits gemeistert hat, kann dieses Kind individuell fördern und ihm gezielt den sprachlichen Input anbieten, der das kindliche Spracherwerbstalent immer wieder herausfordert und die Erwerbsdynamik in Gang hält.
Mittlerweile gibt es eine Fülle von Förderinitiativen und Programmen, die sich in mindestens vier Dimensionen unterscheiden: hinsichtlich des Alters der Zielgruppe, an die sie sich wenden, hinsichtlich der Organisationsformen und didaktischen Strategien (Gruppengröße, Häufigkeit und zeitlicher Umfang einzelner Maßnahmen, Einbettung in das Alltagsgeschehen oder besondere Fördereinheiten, Kooperation mit den Eltern, Durchführung durch eigenes Kita-Team oder Externe etc.), hinsichtlich einer begleitenden Weiterqualifikation (inkl. Coaching) von Fachkräften und hinsichtlich der jeweiligen Vorstellungen von der Erwerbsaufgabe (also der Zielsprache).
Dabei wird oft ein Gegensatz zwischen „ganzheitlichen“ und „spezifischen“ (also an bestimmten sprachlichen Eigenschaften orientierten) Fördermaßnahmen gesehen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich dieser Gegensatz durch die Einsicht überwinden, dass Menschen beim Sprechen immer viele Dinge gleichzeitig tun. Man tauscht sich über Dinge, Ereignisse, Gefühle etc. aus und man bedient sich dabei sehr spezifischer, für die Zielsprache typischer Strukturen und Wörter. Außerdem gibt man gleichzeitig durch die Art, wie man miteinander redet, zu verstehen, was man von seinen GesprächspartnerInnen hält und ob man sich gerne mit ihnen unterhält und an dem, was sie uns mitteilen, interessiert ist. Da bereits Kleinkinder sich für Sprache und für die Kommunikation mit anderen interessieren, sollte die Sprachförderung bei Berücksichtigung der oben genannten Bedingungen für alle Beteiligen ein Gewinn sein.

Weiterführende Literatur:
Tracy, R. 2008: Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie man sie dabei unterstützen kann. Tübingen: Francke.