Deutsch lernen mit Kernvokabular

Deutsch lernen mit Kernvokabular

Dr. Larissa Heitmann, Lena Lingk und Dagmar Fretter • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 22

Seit Oktober 2016 läuft an der Universität zu Köln ein Forschungsprojekt, das ein neues Sprachförderkonzept für Deutsch als Zweitsprache entwickelt. 70 Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen, darunter offene Ganztagseinrichtungen, Schulen und Kindergärten, arbeiten bereits mit dem Konzept.

Kinder mit geringen oder auch ganz fehlenden Deutschkenntnissen gehören inzwischen zum gängigen Bild an deutschen Grundschulen. Zugleich sind die Erwartungen an die Lehrkräfte gestiegen: Diese sollen nicht nur Kompetenzen entwickeln und ihre Fächer unterrichten, sondern gleichsam „nebenbei“ auch die deutsche Sprache vermitteln. In den Gruppen „Deutsch als Zweitsprache” (DaZ), in Vorbereitungs- und Willkommensklassen müssen sich die Pädagog/innen mit zwei zentralen Fragen auseinandersetzen: Wie bringe ich Deutsch bei? Womit fange ich an?
Diese Herausforderung wird durch die zum Teil fehlenden DaZ-Qualifikationen der Lehrkräfte verschärft. Die herkömmliche Sprachförderung geht von einem gewissen Sprachniveau oder zumindest gewissen Lernerfahrungen der Kinder aus. Die Schulen brauchen jedoch ein Konzept, das einen voraussetzungslosen Erwerb der deutschen Sprache von Anfang an ermöglicht und unterschiedliche Lernerfahrungen sowie psychosoziale und kognitive Voraussetzungen berücksichtigt.
Das inklusive Sprachförderkonzept „Kernvokabular trifft DaZ“ (KvDaZ) richtet sich an die absoluten Anfänger unter den Deutsch lernenden Schüler/innen. Ziel ist es, eine Basis für den weiteren Sprach-erwerb zu schaffen, um den Übergang zur Bildungssprache zu erleichtern. Der anfängliche Fokus auf die Alltagssprache erleichtert diesen Übergang (vgl. Gibbons 2002). Mit KvDaZ bekommen Kinder einen schnellen Zugang zur deutschen Sprache und erleben erste Kommunikationserfolge, die die Motivation für die weitere Beschäftigung damit deutlich erhöhen. Durch die inklusive Ausrichtung des Konzepts haben auch Kinder mit Traumata oder Beeinträchtigungen gute Chancen, die deutsche Sprache zu erlernen.
Entwickelt wurde das Konzept von einem interdisziplinären Team von Wissenschaftlern aus Sonderpädagogik, DaZ und Linguistik. Erstmalig wurden Methoden der Sprachförderung aus der „Unterstützten Kommunikation”, eines Fachgebiets der Heil- und Sonderpädagogik, mit aktuellen Erkenntnissen der DaZ-Didaktik verbunden.

Als Grundlage des Konzepts dienen die im Alltag am häufigsten gesprochenen Wörter, das sogenannte „Kernvokabular“ (Boenisch 2014). Es besteht aus 200 Wörtern, die rund 80 Prozent der gesprochenen Sprache ausmachen. Das gilt unabhängig von Alter, Bildungsgrad und Kontext. Zum Kernvokabular gehören hauptsächlich Funktionswörter (ich, nicht, auf, jetzt, noch), Adverbien (immer, jetzt, schon) und Hilfs- und Modalverben (haben, können). Nur vereinzelt treten Inhaltswörter auf: Verben (machen, gucken), Adjektive (schön, gut), und Nomen (Frau, Mann).
Der Fokus der Sprachförderung verschiebt sich im neuen Konzept auf die „kleinen“ Wörter, die bis jetzt in der Sprachförderung wenig Beachtung fanden. Die traditionellen Lehrwerke konzentrieren sich auf die Inhaltswörter. Im KvDaZ-Konzept wird der Großteil davon dem sogenannten Randvokabular zugeordnet. Das ist der Wortschatz, der nur in bestimmten Situationen themenspezifisch gebraucht wird (in der Schule etwa: Bleistift, Mäppchen, Kleber; auf dem Spielplatz: Rutsche, Schaukel, Sandkasten). Während der herkömmliche Unterricht versucht, den Kindern möglichst viele Inhaltswörter beizubringen, geht es im KvDaZ-Konzept darum, möglichst bedeutungsvoll und flexibel zu kommunizieren, um so verschiedene kommunikative Absichten auszudrücken.

Außer „Bleistift“ bestehen diese Äußerungen ausschließlich aus Kernvokabular. Das Inhaltswort „Bleistift“ ist austauschbar. An seiner Stelle können auch andere Wörter wie Mäppchen, Kleber oder Zirkel stehen. Die grammatischen Strukturen und kommunikativen Absichten, die mit Kernvokabular gebildet werden, können also auf verschiedene Situationen übertragen werden. Man kann damit Fragen stellen (Kann ich bitte einen Bleistift haben?), Protest ausdrücken (Deinen Bleistift mag ich nicht.) eine Behauptung aufstellen (Mein Bleistift ist weg.) oder etwas Einfordern (Gib mir jetzt deinen Bleistift.). Ist der Kontext ganz klar vorgegeben, kann eine Interaktion auch völlig ohne Randvokabular gelingen (Kann ich deinen haben? Nicht jetzt. Ich brauche den selbst. Und was soll ich jetzt machen? Nimm einen anderen.)
Im Kernvokabularkonzept wird der Wortschatz ausgehend von verschiedenen Kommunikationssituationen aufgebaut. Dementsprechend werden Themen ausgesucht, die einen Bezug zum echten Leben, zu den Bedürfnissen und Interessen der Kinder haben. Welchen Wortschatz brauchen sie zum Beispiel, um auf dem Spielplatz zurecht zu kommen oder um beim Mittagessen in der Nachmittagsbetreuung eigene Bedürfnisse äußern zu können? Was brauchen sie, um in einer Streitsituation verbal zu reagieren? So werden Sprach- und Handlungskompetenzen gleichzeitig vermittelt.
Neben der Wortschatzarbeit und der Entwicklung kommunikativer Kompetenzen wird auch die Grammatik gefördert. Der Übergang vom Wort zum Satz wird erleichtert, die Kinder bilden schnell Sätze aus mehreren Wörtern und lernen den korrekten Satzbau. Gerade Kinder mit Arabisch als Erstsprache gewöhnen sich dadurch an die Leserichtung von links nach rechts.

Im KvDaZ-Konzept stehen der offenen Ganztagsbetreuung, den Schulen, und Kindergärten spezielle didaktische Materialien zur Verfügung. Diese basieren auf dem Kernvokabular und bieten zusätzlich eine umfassende, nach Themen sortierte Sammlung des Randvokabulars. Dabei wird jedes einzelne Wort mit Symbolen verknüpft und zusätzlich per Schriftbild gekennzeichnet. Mithilfe sogenannter Metacom-Symbole von Annette Kitzinger werden sogar Funktionswörter und abstrakte Begriffe wie „danke“ oder „Quatsch“ visualisiert. Durch die sprachübergreifenden Symbole können die Materialien unabhängig von sprachlicher Heterogenität, Entwicklungsstand oder Lerngeschwindigkeit im Unterricht angewandt werden. Auch Kinder ohne Schriftsprachkenntnisse können sich schnell an den Hilfsmitteln orientieren und so kommunizieren.

Eine Einführung in die Nutzung der Materialien und das KvDaZ-Konzept findet im Rahmen einer mehrtägigen Fortbildung statt. Dabei werden das notwendige theoretische Wissen und die Strategien der Kernvokabularförderung vermittelt und an zahlreichen Bespielen aus der Praxis veranschaulicht. 

Literatur
Boenisch, J. (2014): Kernvokabular im Kindes- und Jugendalter: Vergleichsstudie zum Sprachgebrauch von Schülerinnen und Schülern mit und ohne geistige Behinderung und Konsequenz für die UK. In: uk&forschung (Sonderbeilage Unterstützte Kommunikation 1).
Gibbons, P. (2002): Scaffolding Language,Scaffolding Learning. Teaching Second Langauage Learners in the Mainstram Classroom. Portsmouth: Heinemann.