“Es ist schade, wenn man die eigene Muttersprache nicht weitergibt” Interview mit Serap Güler, Staatssekretärin für Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.

“Es ist schade, wenn man die eigene Muttersprache nicht weitergibt” Interview mit Serap Güler, Staatssekretärin für Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.

Das Gespräch führte Elcin Ekinci • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 7

Waren Sie in Ihrer Schulzeit mit dem Konzept Mehrsprachigkeit konfrontiert?
Ich besuchte den herkunftssprachlichen Unterricht in der Grundschule, es war das Ersatzfach für Religion. Das ging bis zur sechsten oder achten Klasse der weiterführenden Schule, danach wurde es nicht mehr angeboten. Ich fand es für mich sehr bereichernd. Zu Hause wurde nur Türkisch gesprochen, das hatte zwei Gründe: Meine Eltern konnten nur schlecht Deutsch und wollten dieses Defizit nicht an uns weitergeben. Und meine Mutter hat gesagt, du sprichst genug Deutsch draußen, in der Schule und mit deinen Freunden. Für mich als Kind war das keine einfach Situation: auf Deutsch zu spielen und in der Schule zu lernen, aber dann die Sprache zu Hause nicht einsetzen zu dürfen. Doch im Nachhinein bin ich dafür dankbar. Auch für den herkunftssprachlichen Unterricht, bei dem ich mich mit türkischen Gedichten beschäftigt habe und mit der türkischen Literatur. Das ist etwas, was ich nicht missen möchte.

Beherrschen Sie Türkisch so gut wie Deutsch?

Ich würde nicht sagen, dass mein Türkisch so gut ist wie mein Deutsch. Meine Ausbildung war in deutscher Sprache, dann habe ich Germanistik studiert. Das ist nochmal was anderes, wenn man sich so intensiv mit einer Sprache auch wissenschaftlich auseinander setzt. Und jetzt mache ich Politik auf Deutsch. Wenn ich zu bestimmten Dingen auf Türkisch gefragt werde, muss ich selbst manchmal noch einmal überlegen. Ich habe am Anfang zum Beispiel darüber nachgedacht, was „Integrationsgipfel“ auf Türkisch bedeutet, die korrekte Übersetzung lautet „uyum zirvesi“. Das Umschalten zwischen den Sprachen fällt mir manchmal nicht so leicht.

Wurde in Ihrer Ausbildung zur Hotelfachfrau die Mehrsprachigkeit als Ressource angesehen?

Ehrlich gesagt hat niemand nach meinen Türkischkenntnissen gefragt. Wichtig war Englisch. Ich hatte in der Schule auch Französisch, spreche es aber selten, es müsste aufgefrischt werden. Im praktischen Teil der Ausbildung konnte ich meine Türkischkenntnisse oft einsetzen, das war schon hilfreich. Wenn wir beispielsweise türkische Reisegruppen hatten, dann wurde immer nach mir gefragt, ob ich dolmetschen kann, insbesondere wenn die Gäste kein Englisch sprechen konnten. Bei meiner Bewerbung war das aber kein Kriterium und auch beim Einstellungsgespräch hat es keine Rolle gespielt. Doch für den Arbeitgeber war meine Mehrsprachigkeit am Ende sicherlich ein Gewinn.

War der Erwerbe der englischen Sprache anders, vielleicht auch leichter?
Vielleicht hatte ich Vorteile, die sind mir nicht so bewusst gewesen.

Wieso haben Sie sich für das Studium der Germanistik entschieden?

Ich habe am Campus Essen studiert. Deutsch war mein Lieblingsfach in der Schule und ich habe mich damals gerne mit der deutschen Sprache auseinandergesetzt, weil ich die Sprache einfach schön finde. Meine Hauptfächer waren Kommunikationswissenschaften und Germanistik.

Warum hat Ihr Ministerium ein Gutachten zum Thema Mehrsprachigkeit in Auftrag gegeben?

Wir wollten wissen, wo wir stehen und wo noch Handlungsfelder sind. Deswegen haben wir in unserem Koalitionsvertrag unter dem Kapitel „Integration“ die Mehrsprachigkeit ganz klar benannt. Wir stehen als Landesregierung zur Mehrsprachigkeit. Wir halten das für integrationspolitisch wichtig, weil es eine Anerkennung und Wertschätzung für die Menschen ist, die hier leben. Es ist doch schade, wenn Arbeitgeber – wie in meinem Fall während der Ausbildung – sich nicht für andere Sprachkenntnisse interessieren und sie nicht wertschätzen. Deutschland hat lange gebraucht um zu merken, dass jede Sprache wertvoll ist, egal ob es Türkisch, Italienisch oder Griechisch ist. Jede weitere Sprache, trägt zur Vielfalt bei. Das wurde lange Zeit unterschätzt. Beim herkunftssprachlichen Unterricht ist Nordrhein-Westfalen Spitzenreiter im Vergleich zu den anderen Bundesländern. Sich darauf auszuruhen, ist mir aber zu wenig. Durch das Gutachten wollten wir schauen, was noch verbessert werden kann.

Wie haben Sie die Veranstaltung erlebt, auf der die Ergebnisse des Gutachtens präsentiert wurden?

Ich glaube, sie war ein gutes Signal an die unterschiedlichen Akteure. So viele Expertinnen und Experten an einem Tisch zu haben, war uns ein zentrales Anliegen. Fremdsprachenunterricht hat genauso seinen Wert wie Muttersprachenunterricht. Beides ist wichtig.

Wie geht es nach diesem Gutachten weiter?

Einige Handlungsempfehlungen gibt es schon und ich sehe auch, dass das ZMI diese bereits aufgegriffen hat und umsetzt. Es geht auch darum, wie man die Anerkennung der Muttersprache im Regelunterricht aufbauen und fördern kann. Da gibt es durchaus noch Verbesserungspotential. Ich finde es super, dass das ZMI Materialien für die Schulen entwickelt und den Lehrkräften an die Hand gibt. Auch in der Lehrerausbildung sollte die Mehrsprachigkeit eine Rolle spielen. Das sind Punkte, die wir als Landesregierung jetzt nach vorne bringen wollen. Ein Beispiel hierfür ist die Aufstockung der Anzahl der Lehrkräfte für den muttersprachlichen Unterricht um 50 auf nunmehr 936 Stellen im Haushaltsjahr 2019.

Was kann Ihr Ministerium konkret im öffentlichen Diskurs tun?

Wir sollten uns klar dazu bekennen, die Förderung der Muttersprache als politische Aufgabe umsetzen zu wollen. Es ist bei weitem nicht so, dass diejenigen, die Vielfalt gut finden und akzeptieren, auch das Thema Muttersprache akzeptieren. Ich wurde letztens auf einer Veranstaltung von einem Vater angesprochen. Er hätte in der Schule seines Kindes mitbekommen, dass Muttersprachenunterricht angeboten wird und sein Kind nicht daran teilnehmen kann. Sein Kind hat eine deutsch-deutsche Herkunft und da ist es halt nicht so einfach. Dann hat er sich aufgeregt, dass der Unterricht mit seinen Steuern bezahlt wird. Ich habe uns immer als Solidaritätsgesellschaft verstanden. Es muss zur Kultur eines Einwanderungslandes gehören, die Herkunftskultur zu fördern. Dazu gehört natürlich auch die Sprache. Alles andere widerspricht der Mentalität einer Einwanderungsgesellschaft. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die klassischen Einwanderungsländer wie Kanada und die Vereinigten Staaten das auch nicht in dem Maße machen. Ich finde das schade, aber jede Einwanderungsgesellschaft muss ihre eigene Kultur entwickeln. Und die kann nicht aus der Devise bestehen, du bist herzlich willkommen, aber du musst alles andere abwerfen! Es ist eine politische Aufgabe, das deutlich zu benennen. Zuversichtlich stimmt mich, wenn ich sehe, wie viele mehrsprachige Kitas es heute gibt. Die gab es zu meiner Zeit nicht, da war die Mentalität deutlich anders. Das Kind sollte Deutsch lernen und nichts Anderes. Das war zu jener Zeit vielleicht auch richtig, weil viele ja auch zu Hause nicht Deutsch gesprochen haben. Ein Freund von mir betreibt in Köln eine Kita, die eine deutsch-türkische, deutsch-spanische, deutsch-englische und in Duisburg sogar eine deutsch-chinesische Gruppe hat. Er sagt, er kriegt gar nicht alle Kinder unter: Ganz viele deutsche Eltern haben ein Interesse daran, dass ihr Kind schon in der Kita eine weitere Sprache lernt. Wenn die Möglichkeit besteht, warum sollten sie nicht eine weitere Sprache lernen? Das ist ein großer Gewinn. Ich würde nicht so weit gehen, dass der muttersprachliche Unterricht versetzungsrelevant sein soll.

Was bedeutet diese Ausrichtung des Ministeriums für die Kommunalen Integrationszentren?

Das Thema Mehrsprachigkeit ist bereits bei der Landeskoordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren angesiedelt. Wir überlegen gerade, wie wir die Zentren stärker unterstützen können, so dass sie praxisorientierter arbeiten können. Natürlich dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass sie regional unterschiedlich organisiert und strukturiert sind. Wir müssen schauen, wie wir diesen Prozess gestalten.

Wie sehen Sie die Arbeit des ZMI und ihre Fortführung – auch als Beispiel für andere Städte?

Ich kann es nur unterstützen, dass man es auf andere Städte ausweitet. Es kann natürlich auch eine Herausforderung sein, wenn unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Zielvorstellungen zusammenarbeiten. Es macht aber die Stärke Kölns aus, dass alle Akteure letztlich an einem Strang ziehen.

Was wünschen Sie sich vom ZMI zum Thema herkunftssprachlicher Unterricht?

Ganz wichtig ist es, die Eltern mitzunehmen. Da ist viel zu tun, viele kennen ihre Rechte überhaupt nicht. Wenn eine bestimmte Anzahl von Eltern zusammenkommt, können sie an ihrer Schule einfordern, dass herkunftssprachlicher Unterricht angeboten wird. Dafür muss man ein Bewusstsein schaffen. Es ist wichtig, dass die Herkunftssprache vermittelt wird.

Vielen Dank für das Gespräch.