Mehrsprachiges reziprokes Lesen

Mehrsprachiges reziprokes Lesen

Dr. Christoph Gantefort • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 14

Leseverstehen auf der Basis des gesamten sprachlichen Repertoires von mehrsprachig aufwachsenden Grundschülerinnen und Grundschülern entwickeln – mit dieser Zielsetzung haben wir im Jahr 2014 mit dem Start des Programms „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) unsere Arbeit in einem Verbund aus vier Grundschulen aufgenommen. Der Verbund wurde von Seiten der Bezirksregierung Köln koordiniert. Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache hat dabei als externer Kooperationspartner für die wissenschaftliche Begleitung fungiert.

Unsere Arbeit wurde stark durch die Werke von Ofelia García beeinflusst. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, den Begriff Translanguaging zu prägen (vgl. García 2009; Otheguy, García & Reid 2015). Im Kontext des Translanguaging-Ansatzes wird die Auffassung vertreten, dass die natürliche Art und Weise der Kommunikation mehrsprachiger Menschen mehrsprachig ist. Der Wahl sprachlicher Mittel liegt demnach kein „entweder oder“ (etwa Deutsch oder Türkisch) sondern ein „und“ im Sinne einer situationsadäquaten Mischung der Sprachen zu Grunde.
Diese Art der Verständigung, so Garcia, wird jedoch in Bildungskontexten durch oftmals willkürliche einsprachige Normen sanktioniert. Dadurch entsteht eine Benachteiligung mehrsprachig aufwachsender Schülerinnen und Schüler. Während einsprachig Deutsch aufgewachsene Kinder ihr gesamtes sprachliches Repertoire für das Lernen in der Schule nutzen können, können mehrsprachige Kinder und Jugendliche nur einen Ausschnitt ihres Repertoires einbringen. Translanguaging meint also nicht nur die wissenschaftliche Beschreibung komplexer mehrsprachiger Sprachverwendungsweisen, sondern auch deren didaktische Nutzung in Schule und Unterricht (vgl. García & Wei 2014).
In den vier an dem Programm beteiligten Schulen bot sich uns ein hervorragendes Setting, ein auf dem Translanguaging-Ansatz beruhendes Konzept zur Förderung des Leseverstehens zu entwickeln und zu erproben. In diesen Schulen war es bereits gelebte Praxis, die Mehrsprachigkeit der Lernenden zu fördern und einzubinden: Zunächst durch eine Alphabetisierung in Deutsch und Türkisch und im Verlauf der Grundschulzeit durch koordiniertes Lernen in beiden Sprachen (vgl. Bezirksregierung Köln 2014).
Wir sind von theoretischen Überlegungen ausgegangen, wonach Strategien, die das verstehende Lesen unterstützen, sich als unabhängig von Fähigkeiten in Wortschatz oder Grammatik erweisen (vgl. Gantefort & Sanchez-Oroquieta 2015). Die leitende Idee: Je mehr Schülerinnen und Schüler im Austausch zu deutsch- oder türkischsprachigen Texten beide Sprachen integriert verwenden, desto effektiver ist die Aneignung sogenannter hierarchiehoher Kompetenzen im Leseverstehen. Auf der Basis dieses Grundgedankens wurde das schon seit längerem etablierte Konzept des reziproken Lesens (vgl. Palinczar & Brown 1984) weiterentwickelt, welches im Rahmen der BiSS-Expertise (vgl. Schneider et al. 2012) empfohlen, aber bislang vor allem einsprachig realisiert wurde.

Das Konzept
Im reziproken Lesen erarbeiten sich Schülerinnen und Schüler gemeinsam abschnittsweise einen Text und tauschen sich auf gelenkte und ritualisierte Weise dazu aus. Sie übernehmen dabei bestimmte Rollen. Die Interaktion der Lernenden unterstützt dabei eine effektive Aneignung von Leseverstehen (vgl. Rosenshine & Meister 1994). Dieses Verfahren wurde von uns modifiziert: Die Kinder werden ermuntert, im Austausch zum Text neben Deutsch auch alle weiteren ihnen verfügbaren Sprachen zu nutzen. Konkret klären sie schwierige Wörter und Textstellen, stellen Fragen an den Text und beantworten diese. Sie fassen den Textabschnitt zusammen und stellen Überlegungen dazu an, wie der Text weitergehen könnte. Die Lernenden arbeiten in Gruppen zusammen, innerhalb derer sie neben dem Deutschen mindestens eine weitere Sprache teilen. In dieser Konstellation ist es sinnvoll bzw. pragmatisch angemessen, die Sprachen zu mischen und sich nicht auf die sprachlichen Mittel des Deutschen oder Türkischen zu beschränken.
Im Anschluss an diese Interaktionen auf Gruppenebene bearbeiten die Lernenden Aufgaben, die die Wahl standard- und bildungssprachlicher Mittel in Deutsch oder Türkisch erfordern. Wenn die Kinder etwa die Ergebnisse der Lesearbeit im Plenum präsentieren oder einen schriftlichen Text verfassen, erhöht sich die kommunikative Reichweite des sprachlichen Handelns und der Grad der Kontexteinbettung sinkt (vgl. Cummins 2000). Es müssen also sprachliche Mittel gewählt werden, die von den Adressatinnen und Adressaten des sprachlichen Handelns geteilt werden und ein Verstehen auch in kontextreduziertem Zusammenhang ermöglichen. Dies sind dann eher standardsprachliche Mittel des Deutschen. Aber auch für die bildungssprachliche Verwendung des Türkischen lassen sich durch die Einbindung des Herkunftssprachlichen Unterrichts authentische Situationen schaffen. Mehrsprachiges reziprokes Lesen vereint demnach zwei Prinzipien: Lernen auf Basis der Gesamtsprachigkeit und die Förderung bildungssprachlicher sowie metasprachlicher Fähigkeiten.
Eine in Kürze erscheinende Broschüre des BiSS-Programms leitet die Lehrkräfte darin an, das mehrsprachige reziproke Lesen ein- und durchzuführen. Sie wird ergänzt werden durch spezifische Sprachhilfen in der BiSS-Tooldatenbank.

Forschungsergebnisse
In der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes wurden die Lesefähigkeiten der Lernenden in Deutsch und Türkisch im Verlauf der gesamten Grundschulzeit erhoben. Ergänzend erfasst wurden die kognitiven Grundfähigkeiten der Kinder sowie ihre familiäre Lernumwelt im Vorschulalter. Durch den Vergleich mit einer Kontrollgruppe sollten die Effekte des mehrsprachigen reziproken Lesens auf die Entwicklung des Leseverstehens erforscht werden. Zudem war von Interesse, wie sich Leseverstehen im Deutschen und Türkischen während der Grundschulzeit gegenseitig beeinflussen und welche Wirkung eine mehrsprachige familiäre Lernumwelt auf die Entwicklung des Leseverstehens im Deutschen hat.
Der Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigt durchaus positive Effekte: In den Lerngruppen, deren Lehrkräfte direkt in die Verbundarbeit eingebunden waren, ergeben sich deutlichere Zuwächse des Leseverstehens im Deutschen als in der Kontrollgruppe. Insbesondere im dritten Schuljahr fallen diese Effekte recht markant und statistisch signifikant aus. Das belegt, dass eine mehrsprachige Interaktion der Lernenden sich positiv auf das Leseverstehen auswirken kann (vgl. dazu auch Schüler-Meyer et al. 2019 als eine interessante Studie zur mehrsprachigen Förderung mathematischer Kompetenzen). Weniger deutlich zeigen sich diese Effekte, wenn das mehrsprachige reziproke Lesen in Lerngruppen durchgeführt wurde, deren Lehrkräfte nicht direkt in die Verbundarbeit eingebunden waren.
Aus der bisherigen Forschung ist bekannt, dass sich vorschulische Aktivitäten in der Familie, die sich auf die Schriftsprache beziehen, positiv auf die Entwicklung der Lesekompetenz im Schulalter auswirken (vgl. z. B. Scarborough & Dobrich 1994). Praktiken wie das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern oder das Vorlesen von Geschichten werden unter dem Begriff „familiäre Lernumwelt“ zusammengefasst (vgl. Sénéchal & LeFevre 2002). Im Rahmen der Begleitforschung haben wir uns der Frage gewidmet, inwiefern sich eine mehrsprachige familiäre Lernumwelt auf die Entwicklung des Leseverstehens auswirkt – zum Beispiel, wenn die Geschichten nicht nur in Deutsch, sondern auch in anderen Sprachen vorgelesen oder wenn die Sprachen im Gespräch mit dem Kind gemischt werden.
Zu diesem Zweck füllten die Eltern einen Fragebogen aus, in dem sie neben der Häufigkeit solcher Aktivitäten auch angaben, welche ihrer Sprachen zu welchem Anteil genutzt wurden. Wir sind auf der Grundlage theoretischer Überlegungen davon ausgegangen, dass auch Aktivitäten in anderen Sprachen sich positiv auf das Leseverstehen im Deutschen auswirken. Die Ergebnisse zeigen tatsächlich, dass die Effekte der Nutzung von Deutsch und anderen Sprachen in etwa gleich stark ausfallen und auch bis zum dritten Schuljahr bestehen bleiben. Durch diese (vergleichsweise kleine) Studie wird deutlich, dass literalitätsnahe Aktivitäten in der Familie auch dann einen positiven Einfluss auf das Leseverstehen im Deutschen haben, wenn sie in anderen Sprachen durchgeführt werden.

Fazit
Mehrsprachige Bildung hat Potenzial, sowohl in der Familie als auch in der Schule. So kann man die bislang vorliegenden Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des mehrsprachigen reziproken Lesen zusammenfassen. Es zeigt sich damit, dass Praktiken der Sprachmischung („Translanguaging“) sowohl im Rahmen der schulischen Bildung als auch in der Familie zur Entwicklung konventioneller schriftsprachlicher Fähigkeiten beitragen können. 

Literatur
Bezirksregierung Köln (2014). Koordinierte Alphabetisierung im Anfangsunterricht. Das KOALA-Konzept an Kölner Schulen (vorläufiges Exemplar). Unveröffentlichtes Manuskript.
Cummins, J. (2000). Language, power, and pedagogy: Bilingual children in the crossfire. Bilingual education and bilingualism. Clevedon: Multilingual Matters.
Gantefort, C. & Sánchez Oroquieta, M. J. (2015). Translanguaging-Strategien im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung des Leseverstehens auf Basis der Gesamtsprachigkeit. Transfer Forschung ↔ Schule, 1 (1), 24–37.
García, O. (2009). Bilingual education in the 21st century: A global perspective. Malden: Wiley-Blackwell.
García, O., & Wei, L. (2014). Translanguaging: Language, Bilingualism and Education. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Otheguy, R., García, O., & Reid, W. (2015). Clarifying translanguaging and deconstructing named languages: A perspective from linguistics. Applied Linguistics Review, 6(3), 281–307.
Palincsar, A. S., & Brown, A. L. (1984). Reciprocal Teaching of Comprehension-Fostering and Comprehension-Monitoring Activities. Cognition & Instruction, 1(2), 117-175.
Rosenshine, B., & Meister, C. (1994). Reciprocal Teaching: A Review of the Research. Review of Educational Research, 64(4), 479–530.
Scarborough, H. S., & Dobrich, W. (1994). On the efficacy of reading to preschoolers. Developmental Review, 14(3), 245–302.
Schneider, W., Baumert, J., Becker-Mrotzek, M., Hasselhorn, M., Kammermeyer, G., Rauschenbach, T., Roßbach, H.-G., Roth, H.-J., Rothweiler, M., & Stanat, P. (2012): Expertise „Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)“: Bund-Länder-Initiative zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung. Berlin: BMBF. Verfügbar unter: <https://www.bmbf.de/files/BISS_Expertise.pdf> [23.09.2019]
Schüler-Meyer, A., Prediger, S., Wagner, J., & Weinert, H. (2018). Bedingungen für zweisprachige Lernangebote. Videobasierte Analysen zu Nutzung und Wirksamkeit einer Förderung zu Brüchen. Psychologie in Erziehung und Unterricht, (66), 161-175.
Sénéchal, M., & LeFevre, J.-A. (2002). Parental Involvement in the Development of Children’s Reading Skill: A Five-Year Longitudinal Study. Child Development, 73(2), 445-460.