Vom „Hier” und „Da”: Zur Verortung des HSU in der Migrationsgesellschaft

Vom „Hier” und „Da”: Zur Verortung des HSU in der Migrationsgesellschaft

Prof. Dr. Sara Hägi-Mead • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 20

„Ich möchte so gerne den Unterschied wissen zwischen hier und da.“ Krümel und Lulatsch aus der Sesamstraße geben sich große Mühe, dem „Kleinen“ auf seine Frage hin den Unterschied zwischen „hier” und „da” zu erklären (www.youtube.com/watch?v=Z-MRqTJMapY). Das ist gar nicht so einfach. Kompliziert wird es vor allem dadurch, dass der Kleine nicht „hier“, sondern „da“ sein will. Das „Da-sein-können“ scheitert aber daran, dass der Kleine dann doch immer wieder „hier“ ist, im Hier ankommt, mit dem „Hier“ konfrontiert wird – für ihn zum Verzweifeln.

Der sehenswerte Sketch aus der Sesamstraße lässt sich mit etwas Fantasie und Abstraktionsvermögen in den migrationsgesellschaftlichen Alltag übertragen. Denn hier wird diskutiert, wer (nicht) von hier ist und (nicht) dazugehört. Nehmen wir an, es geht darum, in Bezug auf ein migrationsbedingt mehrsprachiges Kind den Unterschied zwischen hier und da zu erfassen. Aber anders als im Sketch der Kleine möchte dieses Kind so gerne „hier“ sein. Es merkt jedoch, dass das wiederholt scheitert, dass es immer wieder „da“ ist, im Da ankommt und mit dem „Da“ konfrontiert wird. Ist das nicht auch zum Verzweifeln?
Was auf den ersten Blick weit hergeholt scheint, zeigt auf den zweiten Blick erstaunliche Parallelen und veranschaulicht folgende Aspekte:

• Ob jemand „hier” oder „da” ist, ist abhängig von der Perspektive oder Position derjenigen, mit denen er oder sie im Gespräch ist.
• Der Name „Herkunftssprache“ suggeriert ein „da” oder „dort”, während sich die Herkunftssprachen-Sprechenden „hier” befinden (wollen).
• Die Gleichzeitigkeit von „hier” und „da” scheint nicht möglich.

Die Frage einer Verortung im Sinne von „wo komme ich her, wo gehöre ich hin?“ ist eine, mit der sich migrationsbedingt mehrsprachige Menschen immer wieder konfrontiert sehen. Es ist eine sehr elementare, wesentliche Frage, da es u.a. um Akzeptanz und Zugehörigkeit in der Mehrheitsgesellschaft geht. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Frage einer Verortung jede/n von uns betrifft, jede/r von uns also dauernd auch in ein solches Gespräch verwickelt ist – unabhängig davon, ob es einem bewusst ist oder nicht, ob man will oder nicht, ob man zur Mehrheitsgesellschaft gehört oder nicht. Denn ob jemand „hier“ oder „da“ ist, ist abhängig von der Perspektive oder Position derjenigen, mit denen er oder sie im Gespräch ist. Mit anderen Worten, jede/r von uns trägt im täglichen Miteinander dazu bei, dass sich Menschen im Allgemeinen und Schülerinnen und Schüler im Besonderen mehr „da” oder mehr „hier” fühlen (können). Ein Reflektieren dieser Involviertheit eines/einer jeden von uns hat ein integratives Potential, das häufig noch etwas brach liegt. Zu häufig sind Fragen nach dem Woher, wenn jemand hier vor uns steht und dieser Fakt, dieses Hier in Frage gestellt wird.

„Ich bin von hier! Hört auf zu fragen!“

„Liebe Ausschließlichdeutsche ohne Migrationshintergrund, hört bitte auf damit. Ich weiß, diese Fragen sind meistens keine böse Absicht. In unzähligen Diskussionen haben mir Leute erklärt, dass sei ein Zeichen für Interesse an der Person, ja sogar ein Fortschritt, weil sich Deutsche endlich trauen, auf Ausländer zuzugehen. Nur genau da liegt das Problem. Für mich sind die Fragen ein Zeichen dafür, wo mich die Fragenden verorten: nämlich unter nicht-deutsch. Unter nicht-hier.“ (Ataman 2019, S. 10f.)

„Hört auf zu fragen“ bedeutet: Hört auf, [mich, mein Hier-sein] in Frage zu stellen. Ferda Atamans lesenswerte Streitschrift setzt sich in pointierter Weise genau mit den eingangs erläuterten Verortungen auseinander. Aufhänger ist die oft zitierte und dem Alltagsrassismus zugerechnete Frage „Woher kommst Du wirklich?“ (vgl. Ogette 2014). In dieser Frage verpackt steckt die Aussage, Du bist nicht wirklich von hier. Ähnlich schwingt auch im Wort „Herkunftssprache” das „woher” mit, und damit eine entsprechende Verortung im Nicht-Hier.

Ist es nicht erstaunlich, dass überhaupt unterschieden wird zwischen Personen mit und ohne Herkunftssprache(n)? Hat nicht jede/r eine (oder mehrere) Herkunfts- oder Familiensprache(n)? Gehört nicht auch Deutsch zu den „Herkunftssprachen“? Inci Dirim (2015, S. 67) arbeitet heraus, dass in dem Ausdruck „die Herkunftssprache“ die Normalitätsannahme „einer” Sprache steckt. Untersuchungen zeigen aber, „dass Kinder und Jugendliche, die migrationsbedingt zwei- und mehrsprachig aufwachsen, in ihrem Alltag nicht nur die als ‚Herkunftssprache‘ angesehene Sprache verwenden, sondern (mindestens) auch Deutsch, und zwar häufig von klein an“ (ebd., S. 65). Deutsch als Herkunftssprache bleibt aber in der Regel unbenannt und unberücksichtigt. Was bedeutet das nun für den so genannten Herkunftssprachenunterricht, für dessen „Aktualisierung“ Dirim (ebd. S. 62) plädiert? Wo wäre eine solche Aktualisierung anzusetzen?

Didaktische Verortung des HSU

Hilfreich für die Beantwortung dieser Fragen ist eine Verortung des HSU in ein Modell der Sprach(en)vermittlung (vgl. Abb. 2), dass das Lernen und Lehren von Sprache(n) in einen breiten, gesellschaftlichen Kontext setzt. Für die Sprach(en)vermittlung relevant sind nach diesem Modell drei unterschiedliche Ebenen, die aber natürlich ineinandergreifen.
Das Modell der Sprach(en)vermittlung visualisiert im Kern die unmittelbare Aneignung von Sprache(n). Hier geht es um die Vermittlung von Wortschatz, Aussprache, Grammatik, um Sprachkompetenzen im engeren Sinne. Die zweite Ebene hebt die Funktionalität von (Bildungs-)Sprache(n) hervor. Hier geht es um Sprache(n) als Werkzeug zum Lehren und Lernen. Eingebettet ist auch diese Ebene in eine weitere, die den gesellschaftlichen Kontext umfasst: Denn Sprach(en)anwendung und Sprach(en)vermittlung sind nie neutral, sondern Sprecherinnen und Sprecher unterschiedlich positioniert und mit unterschiedlicher Macht ausgestattet. Auf dieser dritten Ebene kann die Migrationsgesellschaft als geteilter sozialer Raum wahrgenommen werden: einerseits geteilt im Sinne eines gemeinsamen Ortes der Interaktion und andererseits geteilt im Sinne eines gespaltenen Ortes, in dem Ungleichheiten reproduziert werden (Hägi-Mead u.a. i.Dr.).
Eine „Aktualisierung“ des HSU beträfe eine Auseinandersetzung mit allen drei der beschriebenen Ebenen. Auf der Ebene 1 ist beispielsweise die Aneignung der Migrationssprache(n) unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit zu nennen und (auch) Deutsch als Herkunftssprache zu verorten. Auf der Ebene zwei ist die Verzahnung mit (den) anderen Schulfächern anzusiedeln und zu stärken. Hier ist die Genredidaktik ein vielversprechender Ansatz (vgl. Büttner/Gürsoy 2018). Auf der Ebene geht es um die eigentliche Legitimierung des HSU in der Migrationsgesellschaft und die Frage, ob bzw. wie das explizit und programmatisch fürs „Hiersein” stehen könnte. Ein solches „Hier“ ist auf jeden Fall gestaltbar durch die Perspektive oder Position der mit ins Gespräch verwickelten und das sind wir alle.

Fazit

Wir sind alle Teil der Migrationsgesellschaft, ob wir eigene Migrationserfahrungen mitbringen oder nicht. Je bewusster uns das ist, desto verantwortungsvoller können wir agieren. Zu (hinter)fragen und aufzudecken ist, was und warum als „normal“ gilt und wo das vermeintlich „Normale“ unbenannt ist. Denn: „Immer wenn also eine unbenannte und unsichtbare Norm vorausgesetzt wird und lediglich die ‚Anderen‘ benannt werden, kommt es zu einer Schieflage.“ (Odette 2017: 76) Solche „Andere“ sind auch Schülerinnen und Schüler „mit Herkunftssprache“ oder „mit Migrationshintergrund“. Es zeigt sich also, dass wir (Institutionen, Lehrende, Mehrheitsgesellschaftsangehörige, …), die wir gewohnt sind zu lehren, erklären und wissen, angehalten sind, genauer hinzuhören und hinzuschauen. Es geht darum, Illusionen loszulassen und (neu) zu lernen, was Hiersein bedeutet und dabei anzuerkennen, wer (auch) hier ist. 

Literatur

Ataman, Ferda (2019): Ich bin von hier. Hört auf zu fragen! Frankfurt: S. Fischer.

Büttner, Denise/Gürsoy, Erkan (2018): Mehrsprachig-inklusive Sprachbildung: Ein (Zukunfts-)Modell. In: Gutzmann, Marion (Hrsg.): Sprachen und Kulturen. Frankfurt/Main: Grundschulverband, S. 96-111.

Dirim, Ìnci (2015): Der herkunftssprachliche Unterricht als symbolischer Raum. In: Dirim, Ìnci/Gogolin, Ingrid/Krüger-Potratz, Marianne/Lengyel, Drorit/Reich, Hans H./Weiße, Wolfram (Hrsg.): Impulse für die Migrationsgesellschaft. Bildung, Politik und Religion. Münster: Waxmann. S. 61-71.

Hägi-Mead, Sara/Heller, Vivien/Messerschmidt, Astrid/Molzberger, Gabriele (i.Dr.): Sprachvermittlung in der Migrationsgesellschaft.

Ogette, Tupoka (2014): Woher kommst Du? Ich meine wirklich. 13.11.2014. Migazin.

Ogette, Tupoka (2017): exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen. Münster: unrast.