Von einer Didaktik der Mehrsprachigkeit profitieren alle

Von einer Didaktik der Mehrsprachigkeit profitieren alle

Prof. Dr. Nicole Marx • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 16

Kurz vor Schulbeginn war ich zu Besuch bei einer sehr engagierten Lehrerin einer Vorbereitungsklasse im Kölner Raum. Sie berichtete von einer Schülerin, die trotz längerem Verbleib in der Schule „enorme Schwierigkeiten“ im Fach Deutsch und somit auch im Sachunterricht habe. Ich schlug vor, das Mädchen für den Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) in ihrer Familiensprache anzumelden. Denn dort kann die Schülerin Erfolgserlebnisse erzielen, die wiederum Lernmotivation und Selbstkonzept stärken können. Außerdem erweitert sie dadurch ihr Repertoire um eine weitere (Schrift-)Sprache. Das kann sich auch auf das Lernen im Deutschen positiv auswirken. Gerade dieser Vorteil macht den HSU aus Sicht der Mehrsprachigkeitsforschung zu einem wichtigen Baustein der sprachlichen Bildung.

Dieser Unterricht wurde in Deutschland in den 1980er Jahren jedoch nicht aus diesen Gründen eingeführt. Vielmehr sollte er Kindern und Jugendlichen die Rückkehr ins „Heimatland“ erleichtern. Seitdem hat er sich für das Sprachenlernen insgesamt als sinnvolle Maßnahme erwiesen. Eine durchgehende Unterstützung der Familiensprache kann die kognitive Entwicklung und auch den schulischen Erfolg fördern. Dies ist insbesondere mit einer Fokussierung auf schriftsprachliche Strukturen und Texte möglich, die für das Lernen von Fachinhalten in der Schule zentral sind.
Belege dafür liefert eine umfangreiche Langzeitstudie in den USA. Die erfolgreichsten Beschulungsmodelle waren nachweislich solche, in denen neu zugewanderte Schüler*innen mindestens 40 Prozent des Fach- und Sprachunterrichts in ihrer Familiensprache lernen durften. Sie sind nicht nur in den Sachfächern besser als ihre vollintegrierten Klassenkamerad*innen; sie erzielen auch bessere Leistungen in der Schulsprache Englisch (Collier/Thomas 2017).
Diese Ergebnisse wurden weltweit bestätigt. Auch in Deutschland gibt es Indizien, dass der Herkunftssprachliche Unterricht wirksam ist. Hierzu gehört eine Studie, die wir von 2016 bis 2018 in Bremen und Hamburg unter 128 Seiteneinsteiger*innen in den ersten zwei Jahren nach dem Übergang in den Regelunterricht durchgeführt haben. Sie zeigt, dass HSU-Teilnehmende mehr Fortschritte bei unterschiedlichen Teilfertigkeiten des Lesens im Deutschen machen als Kinder und Jugendliche, die nicht teilnehmen (Marx/Gill 2019). Die Unterstützung der Mehrsprachigkeit scheint also vorteilhaft zu sein.
Gerade dies wirft für die Didaktik die Frage auf, ob wir mehrsprachige Fähigkeiten gewinnbringend in der Schule einsetzen können. Die Antwort ist eindeutig ja, obwohl manche Ergebnisse überraschen. Denn vieles hängt von der Schülergruppe ab:

• Neuzugewanderte Schüler*innen in
Vorbereitungsklassen profitieren durch den Einbezug von Sprachen, die sie bereits kennen. Dabei muss es sich nicht immer um die eigene Familiensprache handeln: Viele Schüler*innen haben zum Beispiel bereits Englisch gelernt. Das kann für den Unterrichtsablauf sehr hilfreich sein – und darüber hinaus auch für das Lernen der deutschen Sprache, die viele Ähnlichkeiten mit dem Englischen hat (Marx 2005). Zudem können Familiensprachen gewinnbringend bei der Bearbeitung von Fachinhalten sein. Dadurch werden Schüler*innen auf einem altersangemessenen inhaltlichen Niveau herausgefordert. Curricula für Vorbereitungsklassen können dezidiert Fachinhalte einbeziehen, die in unterschiedlichen Sprachen zugänglich sind (Marx/Gill/Reichert/Rick 2018).

• Regelschüler*innen mit anderen Familiensprachen als Deutsch können von einer Verzahnung der Sprachenfächer (Deutsch, Herkunftssprachen, Englisch und weitere Fremdsprachen) profitieren, wenn dadurch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen und ihrer Verwendung reflektiert werden. Hierzu zählen weniger grammatische Besonderheiten als vielmehr größere sprachliche Einheiten wie etwa Textstrukturen. Das hat einen einfachen Grund: Viele schulische Textsorten wie Erzählungen, Beschreibungen oder Erklärungen ähneln sich in ihrer Struktur. Das kann genutzt werden, um auf Gemeinsamkeiten der Sprachen hinzuweisen und somit Unterrichtsinhalte sprachenübergreifend zu erarbeiten. In einer Interventionsstudie konnten wir nachweisen, dass Schüler*innen, die im Deutschunterricht eine Unterstützung beim Verfassen von Figurenbeschreibungen erhielten, dadurch auch bessere Beschreibungen in ihrer Familiensprache Türkisch verfassten (Marx/Steinhoff 2019).

• Auch Schüler*innen, die zu Hause nur Deutsch lernen, können von einer sich entwickelnden Mehrsprachigkeit profitieren – durch den Fremdsprachenunterricht und ihren Kontakt mit mehrsprachigen Klassenkamerad*innen. Der Einbezug anderer Sprachen führt dazu, dass alle Sprachen im eigenen Repertoire gestärkt werden. Vor allem sind Unterrichtsinhalte hilfreich, die den Wert von schriftlichen Kenntnissen in mehreren Sprachen betonen. Sie ermöglichen den Kindern und Jugendlichen, kreativ mit unterschiedlichen Sprachen umzugehen. So haben wir in der Sekundarstufe ein Projekt durchgeführt, in dem Schüler*innen ein mehrsprachiges, multilineares Buch erstellt haben. Dabei lernten sie neben wichtigen allgemeinen Textstrukturen und Formulierungen im Deutschen auch viel über Formulierungen in ihren Herkunfts- und weiteren Fremdsprachen (Marx/Yildiz 2017).
Leider steht die Umsetzung solcher Ideen in Deutschland noch ganz am Anfang, obwohl bereits vielfältige Konzepte für alle Schulformen und Altersstufen vorliegen.
Fazit: Es ist sinnvoll, dass alle Schüler*in-nen und alle Lehrkräfte sich ihrer Mehrsprachigkeit bewusster werden und sinnvolle Gelegenheiten suchen, diese im Unterrichtsalltag einzusetzen. Dabei soll der Fokus auf sprachlichen Aspekten liegen, die eine Basis für den weiteren Ausbau von Textkompetenzen bilden und außerhalb der Schule (zu Hause, mit Freunden, im Internet) seltener geübt werden. So ergeben sich Synergieeffekte, von denen alle Beteiligten profitieren können.

Literatur

Collier, Virginia; Thomas, Wayne (2017): Validating the power of bilingual schooling: Thirty-two years of largescale, longitudinal research. In: Annual Review of Applied Linguistics (ARAL) 37, 203-217.
Marx, Nicole (2005): Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache: Zum Nutzen eines Sensibilisierungsunterrichts in „DaFnE“. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Marx, Nicole; Gill, Christian (2019): Migrant students’ reading in their first two years of mainstream education, 29. August 2019 in Lund, Schweden.
Marx, Nicole; Gill, Christian; Reichert, Marie-Christin; Rick, Bettina (2018): Entwurf eines Curriculums für den Vorkurs in der Sekundarstufe I an bremischen Schulen. Eingereicht am 31.01.2018 bei der Senatorischen Behörde für Kinder und Bildung, Bundesland Bremen.
Marx, Nicole; Steinhoff, Torsten (2019): Monolinguale Schreibförderung mit bilingualem Lernpotenzial. In: Fremdsprache Deutsch 30 (60), 8-14.
Marx, Nicole; Yildiz, Sibel (2017): Mehrsprachigkeit hat Mehrwert! Ein Projekt für Seiteneinsteiger der 7.-8. Klassen. In: Praxis Deutsch 263, 46-51. 