„Say their names“ – learn their languages

„Say their names“ – learn their languages
Sprachenlernen in der postmigrantischen Gesellschaft am Beispiel
einer Mehrsprachigkeits-Werkstatt an einer Schule in Frankfurt am Main.

von Almut Küppers und Aylin Alşahin • Artikel im ZMI Magazin 2020, S. 21

Im Narrativ der postmigrantischen Gesellschaft rückt das nationale Schulsystem ins Blickfeld für nachträgliche Anpassungen an die Realitäten der Einwanderungsgesellschaft. Der Neuausrichtung der (fremd-)sprachlichen Bildung könnte dabei eine Schlüsselrolle zukommen. Eine Gesamtschule in Frankfurt betritt mit einer dezidiert rassismuskritischen Mehrsprachigkeits-Werkstatt dabei Neuland: Mehrsprachige Lehramtsstudierende bringen Schüler*innen ihre Familiensprachen bei.

An einem sonnigen Nachmittag im September machen sich eine Gruppe mit Schüler*innen einer Gesamtschule, eine Lernbegleiterin, vier Englisch-Student*innen der Goethe-Universität und ihre Dozentin auf den Weg von Sachsenhausen an das Nordufer des Mains. Der Spaziergang führt sie zu einem eindrucksvollen Wandgemälde unter der Friedenbrücke. Es zeigt auf 27 Metern die Gesichter der neun Menschen, die am 19.2.2020 in Hanau Opfer eines rassistischen Anschlags wurden. Das Kunstwerk ist ein Geschenk der unbekannten Künstler*innen an die Hinterbliebenen der Opfer. Das Gedenken an die Opfer steht hier im Mittelpunkt. Als Mahnmal erinnert dieses Kunstwerk daran, dass Rassismus tötet und Familien zerstört.

Was haben Sprachen mit Rassismus zu tun?
Unter der Brücke angekommen, verstummen die munteren Gespräche und das Lachen. Die Gruppe geht von Gesicht zu Gesicht. Die Student*innen erzählen etwas über das Leben des jeweiligen Opfers. Die meisten sind in Deutschland geboren, waren noch jung, hatten das Leben noch vor sich. Alle neun Opfer sprachen Deutsch, aber sie sprachen alle auch weitere Sprachen: Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Farsi, Bulgarisch und Romanes. Am Ende der kleinen Vorträge sagt die ganze Gruppe den jeweiligen Namen des Opfers: „Wir werden dich nicht vergessen, Vili, … Ferhat oder Mercedes“ – auch in der Familiensprache des Opfers. Dann legen die Schüler*innen die mitgebrachten Blumen nieder. Das Kunstwerk erinnert an neun Menschen, die alle ein Teil Deutschlands waren und damit erinnert es auch daran, dass Deutschland ein reiches Land ist; reich an Sprachen und Vielfalt, denn jede einzelne Sprache eröffnet uns ein neues Fenster, durch das wir die Welt ein wenig anders sehen, verstehen und erleben können.
Sprachenvielfalt ist eine sichtbare und vor allem auch hörbare Facette einer Einwanderungsgesellschaft. Und obwohl niemand aufgrund seiner Herkunft oder seiner Familiensprache in Deutschland diskriminiert werden darf, ist es noch immer der Fall, dass viele mehrsprachige junge Menschen sich nicht trauen oder sogar schämen ihre Familiensprachen in Öffentlichkeit oder Schule zu benutzen. In einem Gespräch junger Journalist*innen zum Thema Mehrsprachigkeit wird deutlich, wie stark Alltagsrassismen und das herrschende Sprachenregime in Gesellschaft und Bildungssystem einer unbeschwerten mehrsprachigen Identitätsentwicklung entgegenstehen (vgl. dazu Aburakia & Ohanwe 2020 in Kanakische Welle: „Gute Sprache – böse Sprache“).

Ein ungewöhnliches Bildungsangebot an einer ungewöhnlichen Schule
Die Region um Frankfurt ist eine der vielfältigsten in Deutschland. Drei von vier Erstklässler*innen wachsen hier in einer Familie mit internationaler Geschichte auf, was zumeist mit „Migrationshintergrund“ bezeichnet wird. Trotz der großen Sprachenvielfalt am Main ist das Fremdsprachen-Angebot an Frankfurts Schulen (noch) weitgehend reduziert auf das klassische Menü der europäischen Nationalsprachen. An der Integrativen Gesamtschule Süd in Sachsenhausen konnte im Schuljahr 2020/21 die MAINeSprachen-Werkstatt ihre Pforten öffnen. In Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt (GUF) bringen hier Lehramtsstudierende den Schüler*innen ihre Familiensprachen bei: Türkisch, Kroatisch oder Arabisch und andere.
Auch die Schule selbst geht ungewöhnliche Wege (vgl. http://www.igs-sued.eu). Sie ist noch keine fünf Jahre alt und hat alle Pfeiler des traditionellen Schulsystems eingerissen: Es gibt an dieser staatlichen (nicht privaten!) und pädagogisch selbständigen Gesamtschule keine Klassen, keine Fächer, keine Hausaufgaben, keine Noten und keine Lehrer*innen (sondern Lernbegleiter*innen). Die Kinder werden in ihren Leistungen nicht miteinander verglichen, sondern ihre Potenziale und Persönlichkeiten werden durch autonomes Lernen und individuelles Feedback sowie Handlungsorientierung und Projektarbeit gefördert. In den offenen und flexiblen Strukturen dieser Schule fand sich schnell ein Raum, in dem auch die Mehrsprachigkeit ihr Potenzial entfalten kann.

Lokale Mehrsprachigkeit und Nachhaltigkeit als Ausgangspunkt
Die MAINeSprachen-Werkstatt wird als Wahlpflichtkurs angeboten, entspricht damit dem Status einer 2. Fremdsprache und kann von allen Lernenden der Schule angewählt werden. Das Angebot ist somit inklusiv und richtet sich explizit auch an Kinder, die diese Sprachen nicht zuhause sprechen. Besondere Bedeutung haben Peerlearning und der lokale sowie digitale Anwendungsbezug der gelernten Sprachen an außerschulischen Lernorten, in der urbanen Nachbarschaft und virtuellen Gegenwart. Ziel ist es, den teilnehmenden Schüler*innen kommunikative Grundlagen in ausgewählten Frankfurter Sprachen beizubringen.
Viele Kinder der Schule – insbesondere mit Haupt- und Realschulempfehlungen – wachsen mehrsprachig auf und verfügen über Kompetenzen in vornehmlich nicht-europäischen Migrationssprachen. Bislang spielen die Familiensprachen für den Bildungsverlauf dieser Kinder keine Rolle: Sie können sie weder bildungssprachlich weiterentwickeln, noch als kulturelles Kapital (z.B. als Nachweis über die 2. Fremdsprache für das Abitur) für ihre Schullaufbahn nutzen.
Auch das Hessische soll in der Werkstatt eine Rolle spielen, um die lokale Verankerung der Mehrsprachigkeit in Frankfurt zu betonen, was neben dem Anwendungsbezug ebenfalls zum Konzept der Schule passt: Die IGS Süd richtet ihre Bildungsarbeit explizit an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen aus (vgl. Development Goals / SGD; UN 2015) aus. Während sich der klassische Fremdsprachenunterricht traditionell an einem „Später“ (für Urlaub, Konsum und Beruf) orientiert, bereitet die Werkstatt auf „Sprachenlernen im Jetzt“ vor: Die Sprachen können mittags gelernt und schon nachmittags auf dem Weg nach Hause, beim Einkaufen oder im Sportverein benutzt und damit besser verankert werden. Die Werkstattarbeit nutzt somit lokale Ressourcen und zielt konkret auf die Nachhaltigkeitsziele Nr. 3, 4 und 11 (SDG 3 = health, well-being & identity / SDG 4 = quality & equitable education / SDG 11 = inclusive & sustainable cities).

Die Ziele der MAINeSprachen-Werkstatt
In dem Kooperationsprojekt mit der IGS Süd erleben die Studierenden und angehenden Englisch-Lehrkräfte erstmalig einen Mehrwert für ihre biographische Mehrsprachigkeit und können so die Verbindung zu ihren Familiensprachen (wieder) vertiefen. Durch die Vermittlungsaspekte werden ihre Kompetenzen außerdem fundiert und weiterentwickelt. In universitären Lehrveranstaltungen lernen sie moderne, inklusive Ansätze der Englischdidaktik kennen und übertragen diese auf ihre Familiensprachen. In dem äußerst innovativen Praxiskontext der IGS Süd können sie sich außerdem als Change Agent erleben und erwerben gleichzeitig Handlungskompetenzen im Umgang mit Schüler*innen und Kolleg*innen sowie bei der Erstellung von Unterrichtseinheiten und (digitaler) Materialien.
Im Zentrum aber stehen die Schüler*innen. Sie profitieren durch die Werkstatt, weil diese die vielen Familiensprachen in der Schulgemeinschaft aufwertet und einen positiven Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulalltag etabliert. Die individuellen Mehrsprachenrepertoires der Schüler*innen können erweitert werden mit positiven Effekten für die Sprachentwicklung in den Familiensprachen, den Zweitspracherwerb des Deutschen, für Identitätsentwicklung und Selbstwirksamkeit. Einsprachige Kinder und Kinder mit anderen Familiensprachen können durch das Erlernen nicht-europäischer Sprachen wertvolle Sprachlernerfahrungen machen, entwickeln Respekt für das Erlernen einer „schweren“ Sprache wie Deutsch und erhalten einen Zugang zur mehrsprachigen Realität in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft (vgl. Küppers 2016).
Hintergrund: Rassismuskritische Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft
In der dezidiert rassismuskritischen Ausrichtung des Werkstatt-Konzeptes spielt der Begriff des Postmigrantischen eine wichtige Rolle (vgl. Foroutan 2019). Postmigrantisch fungiert als Beschreibung für eine Gesellschaft, die durch beständige Einwanderung charakterisiert ist. Die Vorsilbe „post“ verweist dabei keinesfalls auf das Ende von Migration, sondern impliziert, dass zentrale gesellschaftliche Bereiche und Institutionen post-migrantisch, also nachholend nachjustiert werden. Junge Menschen, die – wie viele der Opfer des Anschlags von Hanau oder die jungen Journalist*innen der Kanakischen Welle – in Deutschland geboren wurden und mehrsprachig aufwachsen, werden aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Sprache migrantisiert, obgleich sie deutsche Staatsbüger*innen sind. Das Postmigrantische bezeichnet hingegen ein Narrativ, in dem Unterschiedlichkeit, Differenzen und Gegensätzlichkeiten innerhalb einer offenen Gesellschaft als selbstverständlich und positiv betrachtet werden können.
Der Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani weist darauf hin, dass die Schule für viele Kinder aus armen Familien ein Ort der doppelten Benachteiligung ist (vgl. El-Mafaalani 2020: 94). Einerseits sei soziale Ungleichheit ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, was durch die vielen eingebauten Selektionsmechanismen im deutschen Schulsystem nicht nur legitimiert, sondern zudem verstärkt werde. Und gleichzeitig ist die Schule aber der einzige Ort, an dem alle Kinder erreicht werden und entsprechend der zentrale Ort, an dem soziale Benachteiligungen abgebaut werden könnten (El-Mafaalani 2020: 77ff.). Im Narrativ der postmigrantischen Gesellschaft rückt nun das nationale Schulsystem ins Blickfeld für nachträgliche Anpassungen an die Realitäten der Einwanderungsgesellschaft. Der Neuausrichtung der (fremd-)sprachlichen Bildung, wie sie z.B. von der Europäischen Kommission (2015) empfohlen oder im Rat für Migration (2020) diskutiert wird, könnte dabei eine Schlüsselrolle zukommen (vgl. Vogel 2020, Küppers 2021).

Erste Erkenntnisse und Ausblick
Fünfzehn Jugendliche (13 bis 16 Jahre) nehmen an der MAINeSprachen-Werkstatt teil. Sie sind alle mehrsprachig und gekommen, weil sie neugierig waren und Interesse an anderen Sprachen haben. Auffällig ist, dass dem hohen Interesse auch große Unsicherheiten gegenüberstehen: Viele Jugendliche haben nicht nur das Gefühl, ihre Familiensprachen seien in der Gesellschaft „nicht viel wert“, sondern sie glauben auch, sie nicht „gut genug“ zu beherrschen. Gleichzeitig wird deutlich, wie intensiv der Kontakt z.B. mit einer Sprache wie Türkisch im Alltag und in der Freizeit junger Menschen ist, denn viele verfügen über einen erstaunlichen türkischen Wortschatz und etliche Redemittel.
Wir verstehen die Arbeit in der MAINeSprachen-Werkstatt als Beitrag zur Überwindung der – durch die Corona-Krise zusätzlich verschärften – Chancenungleichheit im Bildungssystem. Die Erfahrungen aus der Werkstatt können außerdem wichtige Erkenntnisse liefern über Akzeptanz, Wirkung und Herausforderungen mit sprachlichen Angeboten in (nicht-europäischen) Migrationssprachen und damit als Baustein betrachtet werden zur Entwicklung und Etablierung neuer inklusiver fremdsprachlicher Fächer.
Das Kunstwerk am Main erinnert uns schließlich auch daran, dass es noch ein langer Weg ist, bis wir da angekommen sind, wo wir hinwollen: Eine postmigrantische Gesellschaft, in der niemand Angst haben muss, auf der Straße seine Familiensprache mit Eltern oder Freund*innen zu benutzen; eine Gesellschaft ohne Hass, Rassismus und Gewalt, die ihren (Sprachen-)Reichtum schätzt und schützt und eine Schule, in der ein offenes (Fremd-) Sprachencurriculum die Prinzipien einer offenen Gesellschaft widerspiegelt.

Literatur
Aburakia, Marcel & Ohanwe, Malcolm (2020): Gute Sprache – böse Sprache. Podcast vom 21.9.2020. Online: https://kanackischewelle.podigee.io/32-gutesprache-boesesprache [24.11.2020].
El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Europäische Kommission (2015): Language Teaching and Learning in Multilingual Classrooms. Online: https://ec.europa.eu/assets/eac/languages/library/studies/multilingual-classroom_en.pdf [24.11.2020].
Foroutan, Naika (2019): Die Postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript.
Küppers, Almut (2021): Sprachenlernen in der postmigrantischen Gesellschaft. Oder: Braucht eine offene Gesellschaft ein offenes Fremdsprachencurriculum? In: Welche Zielsetzungen sind für Französisch, Spanisch, Russisch & Co. (noch) zeitgemäß? Zu Perspektiven der weiteren Schulfremdsprachen im Zeitalter von Global English und Digitalisierung, hg. von Anka Bergmann, Christoph O. Mayer & Jochen Plikat. Berlin: Peter Lang (im Erscheinen).
Vereinte Nationen (2015): Sustainable Development Goals. Online: https://www.globalgoals.org/ [24.11.2020].
Vogel, Dita (2020): Drei Sprachen sind genug fürs Abitur. Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen. Online: https://rat-fuer-migration.de/2020/07/08/debatte-3-sprachen-sind-genug-fuers-abitur/ [24.11.2020].