Mehrsprachigkeit und digitale Bildung – Plädoyer für Pragmatik

Mehrsprachigkeit und digitale Bildung – Plädoyer für Pragmatik

von Prof. Dr. Jörg Roche• Artikel im ZMI Magazin 2021/22, S. 12

Auch wenn man über den Nutzen und die Gefahren digitaler Medien vortrefflich streiten kann, für den Sprachenerwerb und Sprachenerhalt bieten sie tatsächlich viele Potenziale. Dass diese Potenziale bisher in Bildungskontexten nur partiell oder rudimentär zum Tragen kommen, hat sicher viele Ursachen: der Fokus auf die Hardware-Ausstattung („digitale Offensiven“, „Schulen ans Netz“), Ängste der Lehrkräfte vor dem Nicht-Funktionieren der Technik und dem vermeintlichen Versagen im Unterricht, Vorbehalte der Eltern und des gesamten Lernumfeldes, ein oft nicht hinreichend gefördertes und gefordertes Zutrauen in den verantwortungsvollen Umgang der Schülerinnen und Schüler mit Medien, abträglicher Aktionismus der IT-Entwickler, eine beängstigende Phantasie- und Ahnungslosigkeit der IT-Branche in Bezug auf handlungsdidaktische Erfordernisse und Erfolgskonzepte und weiteres. Bei so vielen Widerständen, Vorbehalten und oft auch mangelnden empirischen Belegen für digitale Mehrwerte könnte man das Thema auch „gleich wieder einpacken“, vor allem im Bereich der Nutzung und Vermittlung von Sprachen. Man könnte aber auch einen – durchaus kritisch-konstruktiven – Blick auf die digitalen Entwicklungen werfen, die jenseits von Medienak-tionismus, Medienphobie und Hardware-Fixierung empirisch belegbare Lern- und Bildungsmehrwerte generieren. Einige solcher Entwicklungen, die für den Spracherwerb relevant sind, sollen im Folgenden skizziert werden. Bezeichnenderweise haben sie alle einen soliden theoretischen Hintergrund.

Digitale Medien und Cyber-Culture
Die digitalen Instrumente, die unseren Alltag und unsere Kommunikation bestimmen, sind jeweils kulturell geprägt, auch wenn sie an der Oberfläche in jedem Land ähnlich aussehen. Ihre Nutzung variiert oft so stark, dass daraus große Probleme für die Kommunikation und die Bildung entstehen. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass die informelle Form von E-Mails in geschäftlichen Kontexten in verschiedenen Kommunikationskulturen allgemein nicht akzeptiert wird oder ein Tabu darstellt, während sie in anderen völlig gängig ist. Unterschiedliche Gewohnheiten und Erwartungen können aber gerade bei ähnlich aussehender Oberfläche der Medien zu gravierenden Problemen führen. Aktuell sind daraus resultierende Herausforderungen in der Konzeption und Nutzung digital-gestützter Lernplattformen und Video-Konferenzsysteme zu erkennen, die oft nicht den didaktischen, pädagogischen und kommunikativen Erwartungen bestimmter Lehr- und Lernkulturen entsprechen. Gängige kommerzielle Sprachlernsoftware basiert häufig auf einem behaviouristischen Ansatz und damit auf Lehrmethoden, die auf die reine Verhaltensverstärkung ausgerichtet sind. Mit (den) interaktiven und kommunikativen Methoden, bei denen der Fokus auf sprachlicher Handlungsorientierung und Lernzielen wie der Lernerautonomie liegt, sind sie kaum vereinbar.

Virtuelle Medien und Körperlichkeit
Die Terminologie des digitalen Kommunizierens und Lernens basiert auf Begriffen, die eine Mehrdimensionalität des Raumes ausdrücken: Chat-Räume, Foren, Bibliotheken, Speicher, hoch- und runterladen. In Wirklichkeit sind die Plattformen aber flach oder ganz ohne wahrnehmbaren Raum. Das heißt aber nicht, dass man beim Kommunizieren und Lernen auf Räumlichkeit verzichten muss, zumal Räumlichkeit eine der Grundkategorien der Wahrnehmung darstellt und daher unser Denken und Kommunizieren grundlegend dominiert. Im Deutschen und im Englischen etwa werden alle Wetterphänomene konzeptuell in einem virtuellen Container situiert (im Schnee, im Regen, in der Sonne), im Russischen, im Arabischen und in romanischen Sprachen aber unter einer Fläche (bajo la lluvia, sous la pluie).
Wenn diese Räumlichkeit unsere Konzepte und die Kommunikation so stark beeinflusst, dann müssten die digitalen Medien dies auch entsprechend der jeweiligen Sprachkulturen abbilden und für verschiedene Zwecke abbilden lassen. Viele Studien aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaften belegen, dass wir mit Räumlichkeit besser und nachhaltiger lernen, wenn wir Raumvorstellungen und Körperlichkeit mit der Bedeutung der Lerninhalte (semantisch) verbinden können, ein Aspekt, der auch für den Bereich der virtuellen Realität – oder allgemeiner gesagt – der Augmented Reality (AR) relevant ist. Sie wird mittels verschiedener virtueller Technologien in dreidimensionalen Umgebungen umgesetzt. Eine solche Umsetzung mit Bezug zum Sprachenerwerb erfolgt zum Beispiel, wenn in einem virtuellen Brandschutztraining mit einem realen (schweren) Feuerlöscher unterschiedliche Löschszenarien in physischer Echtheit und in Verbindung mit der erforderlichen sprachlichen Interaktion geprobt werden können. Eine sehr gute Metastudie zu den Effekten der Körperlichkeit auf das Lernen liefern übrigens Skulmowski, A., & Rey, G. D. (2018). In einer Reihe von Studien ist gezeigt worden, dass die gleichen positiven Lerneffekte entstehen, wenn die Mehrdimensionalität in virtuellen Darstellungen nachgestellt wird, zum Beispiel beim Erwerb von Wortschatz, wenn dieser damit virtuell „greifbar“ wird. Selbst abstrakt erscheinende Grammatikregeln können auf diese Weise „zum Leben erweckt werden“, wenn in ihnen die Körperlichkeit der Sprache transparent gemacht werden kann. Animationen im Bereich der Sprachvermittlung bieten sich zum Beispiel überall da an, wo es um Räumlichkeit, Bewegungen, Ortsveränderungen und ähnliches in der Sprache geht, weil Animationen die „Bewegung in der Grammatik“ medial besser als statische Abbildungen repräsentieren können. Ein Beispiel: Im Deutschen kämpfen viele Schülerinnen und Schüler – und Grammatik-Vermittlerinnen und -vermittler – mit der Dativ- und Akkusativ-Zuordnung bei den Wechselpräpositionen: auf der Straße / auf die Straße. Man hilft sich im Unterricht oft mit der Unterscheidung durch die Fragen „Wo ist sie?“ (Dativ) / und „Wohin fährt sie?“ (Akkusativ) oder anderen umständlichen Erklärungen zu statischen Verben und Bewegungsverben. Der entscheidende konzeptuelle Unterschied bei dieser Gruppe von Präpositionen lässt sich aber ganz einfach mit den unterschiedlichen Bildschemata erklären: Während bei der Dativ-Verwendung der Ort benannt und nicht verlassen wird, markiert der Akkusativ eine Grenzüberschreitung, also eine Ursprung-Weg-Ziel-Beschreibung. Für die Abbildung solcher Dynamiken eignen sich daher auch bewegte Animationen, in denen zum Beispiel eine animierte Katze eine Grenze überschreitet, während bei statischen Zuständen auch einfache Bilder genügen können. Für alle, die lernen, sind solche Transparentmachungen essenziell, unabhängig davon, ob sie eine zweite (oder dritte) Sprache lernen oder in ihrer Familiensprache unterrichtet werden. Denken wir zum Beispiel an Sprecherinnen und Sprecher mit Spanisch als Ausgangssprache – einer Sprache, in der wenige Präpositionen nötig sind und in der diese polyvalent verwendet werden: eine Präposition wie en kann dort unter anderem in, über, mit und einiges andere bedeuten. Wie soll man dann die Präposition im Deutschen lernen, wenn nicht konzeptuell und am besten mit Animationen unterstützt?

Serious Games und Handlungsdidaktik
Eine Studie von Becker-Mrotzek et al. hat bereits 2013 festgestellt, dass kaum ein Sprachstandsdiagnose-Verfahren in Deutschland die kommunikativen Potenziale vor allem mehrsprachiger Kinder fair und richtig bemisst. Ein neues Verfahren, dessen Entwicklung von der Daimler und Benz Stiftung gefördert wurde, zeigt, dass auch für Diagnosezwecke digitale Lösungen eine Fülle von Mehrwerten erzeugen und dabei im Sinne moderner Modelle eingesetzt werden können, die Sprache und Didaktik als Handlung verstehen (Szenariendidaktik, Pragmalinguistik). Mit diesem Verfahren werden die sprachlichen Potenziale von Kindern in einer angstfreien und spielerischen Umgebung betrachtet – in Situationen, in denen die Kinder eine authentische Aufgabe erkennen und in denen sie motiviert und unbekümmert sprechen. Das neue Verfahren orientiert sich deshalb am natürlichen Sprachverhalten und an der Funktionsweise von Computerspielen (Serious Games). Seine Neuartigkeit besteht zudem in seiner Praktikabilität im Kita-Alltag, denn es handelt sich um eine leicht bedienbare App auf einem Tablet. Das Spiel ist so aufgebaut, dass die Kinder in einer spannenden Geschichte dem schusseligen Kommissarhund Wuschel helfen, unterschiedliche Abenteuer zu bestehen und knifflige Aufgaben sprachlich zu lösen, zum Beispiel, indem sie ihm präzise erklären, wo sich versteckte Gegenstände befinden, oder ihm sagen, wie er verschiedene Hindernisse überwinden kann. Erzieherinnen und Erzieher bleiben dabei „im Hintergrund“, indem sie nur von den Kindern unbemerkt von Szene zu Szene über eine separate App weiter schalten, aber ansonsten nicht in die Geschichte eingreifen und sich auch in physischer Distanz vom Kind befinden. Hinter der Abenteuergeschichte verbirgt sich ein ausgeklügeltes System aus sprachlichen Aufgaben, Standardisierung, Spielsteuerung, Datenaufnahme und -übertragung auf einen datensicheren Server, dortiger Datenverwaltung, effizienten Verfahren zur Verschriftlichung der Tonaufnahmen und computerbasierten Auswertungsroutinen. Das gesamte System ist dabei natürlich im Sinne ethischer Forschungsstandards und Datenschutzbestimmungen zertifiziert.
Nicht nur im Elementarbereich, sondern auch in der Erwachsenenbildung und vor allem in berufsqualifizierenden Kontexten können digitale Medien sinnvoll handlungsorientiert eingesetzt werden – etwa so, wie es derzeit im Rahmen der Entwicklung von sprachsensiblen Pflegeszenarien in einer digitalen Pflegelandschaft von einem bayerisch-hessischen Team umgesetzt wird. Zudem lassen sich sprachliche Kompetenzen mittels digitaler Medien (inklusive automatischer Sprachanalysen) valide, reliabel, objektiv, authentisch und effizient feststellen, so wie es die Wuschel-App, der Digitale TestDaF oder die digitale Fachsprachenprüfung Medizin FAMED bereits umsetzen. Schließlich bieten digitale Medien grundsätzlich einen guten Zugang zu vielseitigen Ressourcen (Sinn-vollen Spielen, Geschichten, Katalogen, Alltags- und Lernwerkzeugen, Apps etc.) aus allen Sprachen dieser Welt. Diese Ressourcen zur Vermittlung, zum Erhalt und zum Ausbau sprachlicher Kompetenzen in verschiedenen Sprachkulturen eignen sich darüber hinaus auch zum Erwerb von gesellschaftlichen Navigationskompetenzen („Wie finde ich mich in einer neuen Gesellschaft ohne hinreichende Sprach- und Kultur-Kenntnisse zurecht? Wie bekomme ich Zugang zu den gesellschaftlichen Spielregeln?“– „WIR in Deutschland – Zusammen Leben Lernen“, „NAVI-D – Deutsch für den Alltag“) und lassen sich auch zu Hause einsetzen.
Wie vielseitig und Mehrwert-generierend digitale Medien eingesetzt werden können, zeigen sogar handlungsorientierte Alphabetisierungsverfahren, die mittels verschiedener digitaler Medien greifbarer, transparenter und besser verfügbar gemacht werden können. Ein solches Alphabetisierungsverfahren entwickelt und erprobt derzeit ein vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) gefördertes Projekt.
Die aufgeführten Beispiele zeigen exemplarisch, welch vielfältigen Nutzen (digitale) Medien haben können. Entscheidend sind dann nicht Fragen der vorhandenen Hardware oder der Quantität der Angebote und es geht auch nicht um Medien-Aktionismus. Stattdessen bestimmt die Frage, welche kommunikativen und didaktischen Ziele verfolgt werden sollen, die Möglichkeiten, welche Medien dafür am besten einzusetzen sind. 

Literatur
Grammatikanimationen: www.granima.de
Roche, Jörg: Fremdsprachenerwerb – Fremdsprachendidaktik. 4. überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: utb. 2020.
Roche, Jörg (Hg.): Medienwissenschaft und Mediendidaktik. KOMPENDIUM DAF/DAZ. Tübingen: Narr. 2019.
Skulmowski, A., & Rey, G. D. (2018). Embodied learning: introducing a taxonomy based on bodily engagement and task integration. Cognitive research: principles and implications, 3(1), 1-10).