Mehrsprachig in allen Fächern: flexibel agieren durch Digitalisierung

Mehrsprachig in allen Fächern:
flexibel agieren durch Digitalisierung

von Dr. Ina-Maria Maahs, Cedric Lawida und Tuba Achahboun • Artikel im ZMI Magazin 2021/22, S. 32

„Plötzlich sitzt da die Hälfte der Lerngruppe im Schlafanzug vor der Kamera und fängt um 11 Uhr an zu frühstücken, während ich versuche, Lesekompetenzen zu vermitteln. Wir mussten uns alle ganz neu organisieren. Aber wir haben auch viel zusammen entdeckt. Es gibt jetzt zum Beispiel jede Woche ein mehrsprachiges digitales Bilderbuch im Wochenplan. Das macht den Kindern unglaublich viel Spaß.“ (Kölner Grundschullehrkraft 2020)

Die Corona-Pandemie stellte alle Akteur:innen des deutschen Bildungssystems vor neue und unerwartete Aufgaben. Gleichzeitig blieben auch davor bestehende Bedarfe unterschiedlicher Lerner:innengruppen bestehen. Lehrkräfte sahen sich dadurch plötzlich mit potenzierten Herausforderungen konfrontiert. In kurzer Zeit erreichten das Kommunale Integrationszentrum der Stadt Köln (KI) viele Anfragen nach Inputs zum Thema Mehrsprachigkeit und Digitalisierung: Wie gestalte ich einen sprachsensiblen Fachunterricht digital? Wie kann ich Mehrsprachigkeitsorientierung im Online-Unterricht realisieren? Welche Tools eignen sich dafür? Diese und ähnliche Fragen werden nicht nur in der Schule verhandelt, sondern auch in der Wissenschaft und Bildungsadministration diskutiert. Am Standort Köln sind verschiedene Akteur:innen aus dem Bereich der sprachlichen Bildung eng vernetzt und es finden sich, koordiniert durch das ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration, auch bei akuten Bedarfen oft schnelle Kooperationsmöglichkeiten.
Anfang des Jahres 2021 kamen Fragen zur Nutzung digitaler Tools in sprachlich heterogenen Klassen besonders häufig auf. Durch den engen Austausch zwischen dem Kommunalen Integrationszentrum der Stadt Köln (KI), dem ZMI und dem Mercator-Institut konnte sehr schnell ein passender Workshop kollaborativ digital vorbereitet und noch vor Ende des Schuljahres 20/21 – organisiert vom KI – online durchgeführt werden.

Translanguaging in der Unterrichtspraxis
Das theoretische Fundament des Workshops stellte das Konzept des Translanguaging (García & Wei 2014) dar. Dieser Ansatz rückt bei der Betrachtung von Mehrsprachigkeit die individuelle Perspektive der Sprecher:innen in den Fokus. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Lina spricht Deutsch und Italienisch. Wenn sie mit ihrem Freund Tim zusammen in einer Gruppenarbeit diskutiert, nutzt sie ausschließlich das Deutsche, da Tim kein Italienisch versteht. Arbeitet Lina zusammen mit ihrer Freundin Giulia, besprechen sie sich auf Deutsch und Italienisch, da sie beide beide Sprachen sprechen. So können sie ihr gesamtsprachliches Repertoire [siehe Infokasten] nutzen, sich dadurch leichter und schneller austauschen sowie die Inhalte besser aneignen. Eine solche Form der Sprachmischung ist also als kommunikative Kompetenz zu betrachten.
Für die Lehrkraft eröffnet diese Haltung die Möglichkeit, die sprachlichen Kompetenzen der Lernenden als Werkzeugkoffer zu betrachten, den diese zum Lernen nutzen können. Wird von den Lernenden hingegen erwartet, dass sie ausschließlich Deutsch sprechen, können sie nur eines ihrer vorhandenen Werkzeuge für alle zu bewältigenden Situationen nutzen. Das Ziel des Translanguaging ist es demnach, den Lernenden möglichst oft die gesamte Palette an Werkzeugen zur Verfügung zu stellen, um je nach Situation jeweils das auszuwählen, das am besten passt.
Was es bedeutet, eigene sprachliche Kompetenzen als Werkzeuge zu erkennen und zu nutzen, konnten Lehrkräfte im Rahmen des Workshops nach dem Prinzip des didaktischen Doppeldeckers selbst erfahren und an unterschiedlichen Tools erproben. Beispielsweise hatten sie durch das digitale Tool StoryboardThat die Möglichkeit, ein eigenes Sprachportrait zu gestalten. Dabei ordneten sie an einem selbst designten Avatar für sie bedeutsame Sprachen bestimmten Körperteilen zu, die ihr Verhältnis zur jeweiligen Sprache ausdrücken, z. B. Kölsch als Sprache des Herzens (s. Abb. 1). Zudem erhielten die Teilnehmenden den Auftrag, die fehlende Überschrift eines niederländischen Textes zu rekonstruieren. Dabei griffen sie automatisch auf ihr gesamtsprachliches Repertoire zurück, welches sie sich selbst zuvor im Sprachportrait bewusst und für andere sichtbar gemacht hatten. Durch die vorhandenen Sprachkenntnisse (z. B. ihre Englisch- oder Französischkenntnisse) konnten sie sich den Inhalt des fremdsprachigen Textes erschließen. Für die Unterrichtspraxis lässt sich dieses Vorgehen auf alphabetisierte Lerngruppen aller Altersstufen übertragen.

Potenziale der Digitalisierung für die Mehrsprachigkeitsdidaktik
Um Mehrsprachigkeit nicht nur digital sichtbar zu machen, sondern auch umfassendere mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze zu realisieren, eröffnen viele digitale Tools und Medien Potenziale, die auch das Lernen an sich verändern (Krommer 2020). Diese Potenziale ergeben sich aus den Eigenschaften des digitalen Raums, die die Merkmale von Texten1 prägen. Vor allem zwei Aspekte sind hierbei wichtig:
1. Digitale Texte sind in größerem Maße multimodal und symmedial als analoge. Sie enthalten also sowohl Schrift und Bild als auch Ton und Film, kombinieren diese Darstellungsformen verstärkt miteinander und setzen sie zueinander in Beziehung.
2. Digitale Texte zeichnen sich durch ein hohes Maß an Konnektivität aus, die sich aus der Möglichkeit ergibt, digitale Texte online miteinander zu verknüpfen, z. B. über Links oder Pop-ups (vgl. Wampfler & Krommer 2019).
Im digitalen Raum können sprachliche Mittel einfacher als im analogen auch auditiv (z. B. durch Tonaufnahmen) oder visuell (z. B. mit Videos oder Bildern) und untereinander verknüpft erfahrbar gemacht werden. Diese Gegebenheiten machen es mehrsprachigen Lernenden möglich, ihre sprachlichen Ressourcen vielfältig einzubringen. Außerdem können unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen in der Schriftsprache und der mündlichen Kommunikation berücksichtigt werden. So ist es bei dem oben erwähnten Beispiel von Lina möglich, dass sie bestimmte Wörter auf Italienisch zwar sprechen, aber nicht schreiben kann. Mithilfe digitaler Tools kann sie den Unterricht mit ihrer Sprachkompetenz trotzdem bereichern, „indem sie ihre mündliche Äußerungen aufnimmt und als Audio-Datei in einem digitalen Text wie in einer Mind-Map zur Verfügung stellt (siehe Abb. 2). Die Konnektivität digitaler Texte ermöglicht es schließlich, das Einbeziehen ganz unterschiedlicher Sprachen in der unterrichtlichen Arbeit anzuregen. So können z. B. über Links oder Pop-ups Wörterbücher, Erklärvideos oder Wortlisten bereitgestellt werden, die die sprachliche Vielfalt einer Lerngruppe berücksichtigen. Auf diese Weise lassen sich auch Sprachkombinationen und -wechsel viel schneller und vielfältiger realisieren, als dies im Umgang mit analogen Medien möglich wäre.
So bietet z. B. das im Workshop vorgestellte und erprobte Tool Mural die Möglichkeit, dass sich die (mehrsprachigen) Schüler:innen im Lernprozess unterschiedliche Medien und Sprachen zunutze machen (s. Abb. 2). Mural stellt eine Art digitales Whiteboard dar und bietet sich wie andere Tools dieser Art besonders gut für kollaborative Brainstorming-Prozesse und Sicherungsphasen an. Lernende können sehr gut parallel arbeiten und gemeinsam Pinnwände, Poster, Mind-Maps oder ähnliches gestalten. Dafür bietet Mural verschiedene Layout-Vorlagen an, lässt aber auch ganz frei gestaltete Whiteboards zu. Alle Beteiligten können gleichzeitig digitale Klebezettel, Bilder oder Icons posten, sortieren und durch Pfeile miteinander verknüpfen. Dabei kann die Mehrsprachigkeit beispielsweise durch Notizen in unterschiedlichen Sprachen einbezogen werden, aber es sind auch Verlinkungen der Klebezettel und Bilder mit Videos und Hörbeispielen in verschiedenen Sprachen oder mit Online-Übersetzern möglich. Ein „Switchen“, also Wechseln, zwischen Formaten sowie Sprachen wird ganz einfach möglich und funktioniert wie selbstverständlich nebenbei. Somit ähnelt die Arbeit mit dem Tool dem individuellen und flexiblen Sprachgebrauch des Translanguaging und kann diesen produktiv unterstützen. Ähnliches gilt auch für das ebenfalls im Workshop erprobte Tool cryptpad, das eine kollaborative Textarbeit an linearen Texten, aber auch z. B. an Tabellen oder Präsentationen unterstützt. Dabei stehen den Schüler:innen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, um unterschiedliche Medien einzubinden. Auch eine Kommentarfunktion für eine metatextuelle Verständigung zum gemeinsamen Schreibprozess ist vorhanden. Auf diese Weise können die verschiedenen mündlichen wie schriftlichen Sprachkompetenzen in das gemeinsame Arbeiten einbezogen werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für einen digitalaffinen mehrsprachigkeitsorientierten Unterricht gar nicht bestimmter digitaler Tools bedarf, die speziell auf die Umsetzung von Mehrsprachigkeitsdidaktik ausgerichtet sind. Im Gegenteil: Durch die genannten Besonderheiten der Digitalität lässt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Tools für diesen Zweck ergiebig machen.

Fazit
Insgesamt haben sich bei der Realisierung der Veranstaltung große Potenziale für die schnelle und effektive Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteur:innen in der Kölner Bildungslandschaft, aber auch in der Ausgestaltung der Veranstaltung, gezeigt. So konnten die Teilnehmenden sich flexibel von unterschiedlichen Orten aus zuschalten und die Tools direkt am eigenen PC umsetzen. Die Teilnehmendenaktivierung war dadurch während der gesamten Veranstaltung sehr hoch.
Die Inhalte des Workshops demonstrieren außerdem: Die digitale Lernumgebung eröffnet ein ergiebiges Lernen im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik nach dem Translanguaging-Ansatz. Die beschriebenen Ansätze und Tools ermöglichen die Loslösung vom Konzept des linearen und statischen Textes im klassischen Sinne und erlauben Verknüpfungen und schnelle Wechsel zwischen Inhalten, Formaten und Sprachen. Digitale Medien können in diesem Kontext daher nicht als zweitrangiger Ersatz für analoge Medien verstanden werden, sondern sollten als gleichwertige Ergänzung betrachtet werden, die ein Türöffner sein kann hin zu einer vielfältigeren und stärker mehrsprachigkeitsorientierten Unterrichtsgestaltung.

Literatur
García, O., & Wei, L. (2014). Translanguaging: Language, Bilingualism and Education. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Krommer, A. (2020). Zum “Mehrwert“ digitaler Medien: Argumente gegen einen irreführenden Begriff. In: Friedrich Jahresheft 2020, S. 20-21.
Krumm, H. J. & Jenkins, E.-M. (2001). Kinder und ihre Sprachen – lebendige Mehrsprachigkeit: Sprachenportraits gesammelt und kommentiert von Hans-Jürgen Krumm. Wien: Eviva.
Leisen, J. (2020). Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, der schreibe es uns. In: BBW 1/2020, S 4-8. http://www.josefleisen.de/downloads/digitalisierung/Analoges%20und%20digitales%20Lesen.pdf. [10.05.2020] Wampfler, P. & Krommer, A. (2019). Lesen im digitalen Zeit-alter. In: Seminar 3/2019, S. 73-84